Ein leichter Druck gegen die von Alter und Wetter verzogene Holztür, den Türgriff gleichzeitig etwas anheben und dann vorsichtig öffnen. Die Ladenglöckchen scheppern, fein und dünn – wie das Bescherungsglöckchen an Heiligabend – und schon steht man im SchokoLaden von Ursula Gschwendtner. Wobei in der Adventszeit die Bezeichnung Laden für das kleine Traditionsgeschäft in der Altöttinger Kapuzinerstraße 12 wohl eher untertrieben ist, verwandelt es sich doch ab Anfang Oktober Tag für Tag mehr in eine Wunderkammer – voll von Adventskalendern in allen Größen und Formen, mit allen nur erdenklichen Motiven, mit kalorienreichen Füllungen von Zartbitter bis Nougatsüß und natürlich mit „ein bisserl Glitzer“, denn der gehört für die Ladeninhaberin einfach zu einem klassischen Papieradventskalender dazu.
Als die Familie Gschwendtner 1878 ihr erstes Geschäft im oberbayerischen Altötting eröffnete, begann sich vor allem in großbürgerlichen evangelischen Familien in Deutschland das Weihnachtsfest und damit auch die Adventszeit sehr zu verändern. Weihnachten verwandelte sich von einem kirchlichen Hochfest in ein bürgerliches Familien- und Geschenkefest, dass auch den Zeitläuften entsprechend pädagogisch entdeckt wurde. Nur wohlgefällige Kinder konnten demnach hoffen, unter dem Weihnachtsbaum beschert zu werden. Und so wurde der Advent, in dem sich die Christenheit spirituell auf die Geburt Jesu Christi vorbereitet, ebenfalls für Kinder pädagogisch instrumentalisiert und ritualisiert: Briefe an das Christkind mussten geschrieben, Geschenke für Eltern und Geschwister gebastelt, Plätzchen gebacken und Weihnachtslieder auswendig gelernt werden. Jetzt hatten Kinder die Gelegenheit, vier Wochen lang ihre großen und kleinen Sünden, die sie unter dem Jahr begangen hatten, durch bestes Benehmen, besonderen Fleiß und Mithilfe im Haushalt wettzumachen, um dann am Heiligabend beschenkt zu werden. Um die Bedeutung dieser vier Wochen sichtbar zu machen, dachten sich Pastoren, Eltern und Erzieher im 19. Jahrhundert Zählhilfen aus.
Impressionen von Adventskalendern aus Ursula Gschwendtners SchokoLaden
Eine der ersten und bekanntesten ist der Adventskranz. Der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern hatte den in Norddeutschland bereits bekannten Brauch eines mit Kerzen geschmückten Wagenrades aufgegriffen. Er bestückte seinen Adventskranz aber mit 24 Kerzen, 19 kleine rote für die Wochentage und vier dicke Weiße für die Sonntage. 1838 entzündete Wichern ihn erstmals im Rauen Haus, einem Waisenhaus, in Hamburg.
Friedrich von Bodelschwingh, ebenfalls evangelischer Theologe und der Gründer der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel, beschreibt wenig später den Brauch des Adventsbäumchens, an das 24 Tage lang Texte mit Bibelversen gehängt werden. Doch auch in katholischen Familien bereiteten sich die Kinder im Advent auf Weihachten mit Zählhilfen vor. Der selige Pater Rupert Mayer, aufgewachsen im Schwäbischen in einer kinderreichen Familie, erzählt darüber in einem Adventsbrief: „So hatte man bei uns zu Hause am Abend des 30. November in Anwesenheit der Eltern und Kinder 25 Kreidestriche in das Innere eines alten Spielschranks, der im Kinderzimmer stand, gemacht. In Gegenwart von klein und groß durfte jeden Abend eines der Geschwister in bestimmter Reihenfolge einen Strich auslöschen. Jeden Abend nahm die Spannung zu. So ging das bis zum 24. Dezember. Welche Freude, wenn nur noch ein Strich da war!“
Neben Kreidestrichen und Kerben an Türrahmen kennt Ursula Gschwendtner, deren Mutter aus dem benachbarten Oberösterreich stammte, selbst noch den Brauch des Strohhalmsteckens. Sie sagt: „Meine Mama war eine sehr religiöse Frau, die gerne die Traditionen ihrer Innviertler Heimat pflegte. Am ersten Dezember wurde bei uns zuhause eine leere Krippe aufgestellt, die wir drei Kinder – meine Schwester, mein Bruder und ich – für das Jesuskind bis zum Heiligabend polstern sollten. Wenn man artig war, durfte man einen Strohhalm ins Kripperl legen, wenn man sehr artig war, sogar auch einmal zwei oder drei Strohhalme. Allerdings konnte es auch passieren, dass wir Strohhalme aus der Krippe herausnehmen mussten.“ Sie schmunzelt und meint: „Es ist durchaus vorgekommen, dass das Christkind recht hart liegen musste.“
Daneben habe es aber auch einen Papieradventskalender mit Türchen gegeben, die die Geschwister abwechselnd öffnen durften, unabhängig von Fleiß oder Bravsein. Damals hat die 66-Jährige Altöttingerin wohl ihre Begeisterung für graphisch ansprechende Adventskalender entdeckt. „Mir gefallen bis heute am besten die Nikolauskalender meiner Kindheit von Fritz Baumgarten, mit ihren Zwergen und Tieren in verschneiten Winterlandschaften. Es gibt diese Motive, wenn auch in kleiner Auflage seit Mitte der 1920er-Jahre unverändert und ich lege mir jedes Jahr einen für mich zurück.“ Ihre Liebe für die zauberhaften kleinen und großen Adventskalender und die Geschichten und Erinnerungen, die sich dahinter verbergen, teilt sie mit ihren Kundinnen und Kunden. Einige von ihnen kaufen tatsächlich das ganze Jahr über Adventskalender, hängen sie auf oder sammeln sie. Und so macht sich Ursula Gschwendtner auch im nächsten Jahr für sie wieder auf die Suche nach ungewöhnlichen Motiven und Formaten, und zwar genau in der Woche nach Ostern, denn da bestellt sie dann wieder ihre Kalender, die kleinen, die großen, die süßen – mit 24 oder auch 32 Türchen.
Text: Maximiliane Saalfrank / Fotos: Roswitha Dorfner
Die ersten Weihnachtskalender
1908 liegt der erste Weihnachtskalender „Im Land des Christkinds“, gedruckt bei F. Reichhold. Lith. Kunstanstalt München, dem „Neuen Tagblatt Stuttgart“ bei. Die Zeichnungen stammen von Richard Ernst Kepler, die 24 Verse von Gerhard Lang. 1906 war im „Münchner Stadtanzeiger“ bereits „H. Schreiber’s Münchener Weihnachts-Kalender“ als Beilage erschienen. Die Innovation Langs ist es, die Bildsprache zeitgenössischer Kinderbücher und Ausschneidebögen aufzugreifen und speziell einen Kalenderinhalt nur für Kinder zu schaffen. Auch der gefüllte Adventskalender geht auf Gerhard Lang zurück, seine Mutter hatte ihm 24 Wibele, ein traditionelles Biskuitkleingebäck aus dem Hohenloher Land, auf einen Karton genäht. In den 1920er-Jahren entstand so in Zusammenarbeit mit dem Kölner Süßwarenhersteller Stollwerck der erste mit Schokolade gefüllte Kalender.
Text: Maximiliane Saalfrank