Einmal quer durch Norwegen zum Grab des Heiligen Olav – diese wenig bekannte Pilgerroute hat Hans Schmöller für sich gewählt. Allein. Er kam an Orte, wo sich die Zeit scheinbar ausdehnt und die Grenze zwischen Himmel und Erde durchlässiger ist. Und ihm wurde einmal mehr klar, wie wichtig ihm sein Glück daheim in der Familie ist.
Jetzt, ein halbes Jahr nach meiner Pilgerreise zum Grab des Heiligen Olav in Trondheim, Norwegen, ist mir bewusst geworden, dass diese Wanderung ein Meilenstein in meinem Leben ist, die mit mir, mit meinem Lebenslauf, untrennbar verbunden bleiben wird. Und die einfach „sein hat müssen“. Ich wollte Pilgern, mal „neben der Spur“ laufen. Der Olavsweg, der quer durch Norwegen von Oslo nach Trondheim führt, erschien mir dafür ideal: weniger überlaufen als der Jakobsweg, viel grüne Natur, alte Kulturlandschaft. Der größte Teil des Weges verläuft im Gudbrandsons-Tal, dann über das Gebirge zur Nordsee-Küste.
Die Internetseite Pilegrimsleden, auf die ich ein Jahr zuvor gestoßen war, begeistert wohl jeden. Sie zieht dich hinein und gibt dir mit der interaktiven Karte und den vielen Bildern das Gefühl, dass du praktisch schon auf dem Weg bist. Es hat dann schon eine Zeitlang gedauert, bis aus dem Gedanken ein Wunsch und dann auch der konkrete Entschluss geworden ist.
Ich wollte eigentlich nicht alleine gehen, habe aber keinen Begleiter gefunden. Damit war ich zwar unabhängig, aber meine Frau machte sich noch mehr Sorgen beim Gedanken, dass ich alleine und einsam dreieinhalb Wochen durch die unbekannte norwegische Wildnis stapfen würde.
Allerdings bin ich schwer von einem einmal gefassten Entschluss abzubringen. Und so legte ich dann zu Jahresbeginn den Zeitraum vom 15. Juli bis 7. August 2021 fest, prüfte die Quartiermöglichkeiten und verkürzte mit dem Start ab Hamar die Strecke nach Trondheim auf realisierbare 488 Kilometer. Dafür nahm ich mir 21 Tage Zeit, also gut 23 km im Schnitt, mit Spitzen bis zu 36 Tageskilometern. Von meinen mehr als 20 Wallfahrten von Passau nach Altötting wusste ich, dass ich 45 Kilometer am Tag schaffe, hatte das dann auch in meiner optimistischen Art auf die geplante Tour umgelegt und mich gefragt, was ich den Rest des Tages machen sollte …
Dann ging‘s los: Flug nach Oslo, weiter mit dem Zug nach Hamar. Die ersten Kilometer als Norwegen-Pilger bei 26 Grad, vorbei an gut gefüllten Badestränden am Mjösa-See zur Pilgerstation: Nette Worte (diesmal gebrochenes Deutsch sonst immer Englisch), Kaffee, der Pilgerausweis und der erste Stempel! War ich stolz und voller Freude!
Wir waren dort drei Pilger: Lisa aus Holstein schlief im Frauen-Schlafraum mit acht Betten, ich im Männerraum. Und Knut aus Norwegen spannte sich seine Hängematte zwischen zwei Bäumen auf und musste draußen übernachten: Je Zimmer war nur ein Haushalt erlaubt. Corona hat zwar die Pilger-Anzahl geviertelt, aber durch die Einschränkungen waren Schlafplätze verknappt. Gut, dass ich alle Quartiere schon vorgebucht hatte.
So konnte es losgehen. 13 Kilogramm auf dem Rücken: drei Trocken-Mahlzeiten, zwei Liter Wasser und Tagesproviant. Wichtigstes Teil war mein Handy. Dort gespeichert waren alle Tagesetappen mit Reservierungen, die interaktive Pilgerkarte mit GPS-Tracking und die Wetterapp. Natürlich war es auch die Kommunikationsbasis für meine vielen Begleiter „im Geiste“ für WhatsApp-Nachrichten, Bilder, Grüße, Telefonate.
Nach drei Tagen mit jeweils über 30 Kilometern „schwamm“ mein linker kleiner Zehennagel auf einer mächtigen Blase, war auch nicht die einzige. Ich kaufte mir leichte Stoffschuhe, um die kritischen Stellen zu entlasten.
Am sechsten Tag kam die Sinnkrise: Warum mache ich das alles? Ich wäre viel lieber zuhause bei meiner Familie. Ich sehnte mich danach, wollte den Blick durchs Fenster in den sonnigen Garten genießen, einfach sitzen (was mir sonst furchtbar schwer fällt!). Die Sinnkrise war mit ein paar tollen Erlebnissen wieder vorbei, die Sehnsucht nach Familie, nach dem, was ich zuhause hatte, blieb. Die Wertschätzung meiner „normalen“ Lebensumstände und die Liebe zu meiner Familie und zu meiner Frau wuchsen mit jeder Woche, die ich unterwegs war.
Unterwegs traf ich – außer in Ortschaften – fast nie jemanden, war also immer alleine unterwegs. Ich telefonierte oft, hörte Podcasts oder meine Lieblingsmusik. Auch in gut der Hälfte der Quartiere war ich alleine. Wenn ich mir was kochte (meist Schinkennudeln), reichte das meist für weitere zwei Mahlzeiten. Käse und Brot hatte ich immer auf Vorrat dabei. Es gab keine Gastwirtschaften, fast keine Cafés, wenig Geschäfte. Und so habe ich eine Erfahrung neu erlebt: „Hunger ist der beste Koch!“
An den Abenden war zunächst Fußpflege angesagt: Blasenversorgung und Heilsalbe. Danach Kochen und (Hand-)Wäsche. Für die Zeit danach hatte ich mir – ganz altmodisch – ein kleines Büchlein mitgenommen. Mir fällt es leichter, Gedanken fest zu halten und zu vertiefen, wenn ich sie aufschreibe. Und Gedanken sollte ich mir auf dieser Pilgerreise viele machen: Ich brauchte keinen neuen Lebenssinn, dazu bin ich zu geerdet. Auch für meinen neuen Lebensabschnitt als Rentner, der sechs Monate später begann, brauchte ich keine neue Ausrichtung. Vielmehr war meiner Frau und mir schon immer bewusst, wieviel Glück wir in unserem Leben hatten und haben: Wir sind seit fast 50 Jahren zusammen, waren eine junge Familie, junge Eltern, haben zwei liebe Kinder und sind jetzt glückliche Oma und Opa. Ich hatte nur ein mal meine Arbeitsstelle gewechselt, war noch nie arbeitslos, noch nie im Krankenhaus. Das Bewusstsein um unser Glück macht uns zufrieden. Dafür wollte ich danken, wollte mir die entscheidenden Weg-Gabelungen im Leben, an denen wir den rechten Weg gewählt haben, ins Gedächtnis rufen, die damaligen Situationen im Rückblick noch mal bewerten. Diese Weg-Gabelungen wollte ich aufschreiben. Es ist aber dann wesentlich ausführlicher geworden, schon fast ein Rückblick auf mein bisheriges Leben. Aber das hat gut getan!
Nach zehn Tagen an den Hängen des Gudbrandson-Tales mit schon ordentlichen Auf- und Abstiegen ging es jetzt über die ersten Berge, über die Baumgrenze, wo nur noch Gestrüpp, Moos und Flechten die Steine bedecken. Leider hat sich dann auch das Wetter deutlich verschlechtert, es regnete oft, der Wind blies über die Hochebenen, es wurde kalt. So kalt, dass ich im Hochsommer mein zweites Paar Socken als Handschuhe anziehen musste.
„Nach einer Weile meinte sie: Die Sonne bewege sich nicht. Sie habe an diesem Ort immer das Gefühl, „like stretched time“, als wäre die Zeit gedehnt.”
Aber immer wieder – und da steigt gerade jetzt beim Schreiben wieder dieses ganz tiefe Gefühl in mir hoch – wenn sich der Horizont weitete und ich den weiteren Wegverlauf in der vor mir liegenden wunderbaren Landschaft erkennen konnte, wusste ich: Das ist MEIN WEG – Und war überglücklich, ihn gehen zu können.
Zwei tiefe Erfahrungen, können diese Erfahrung vielleicht ein wenig verdeutlichen:
Zwei tiefe Erfahrungen, können diese Erfahrung vielleicht ein wenig verdeutlichen:
In Budsjord, einem uralten Gehöft auf halbem Anstieg zum Gebirge, saß ich auf der Hausbank, Blick über das dunkel werdende Tal zur untergehenden Sonne. Ich zeichnete gerade die Situation auf eine Ansichtskarte an meinen Sohn. Die junge Wirtin, Threadlocks, weites Gewand, barfuß, saß unweit von mir auf einem Stein und genoss die gleiche Situation. Nach einer Weile meinte sie: Die Sonne bewege sich nicht. Sie habe an diesem Ort immer das Gefühl, „like stretched time“, als wäre die Zeit gedehnt.
Einige Tage später in der alten Poststation, wo die E6 übers Gebirge verläuft, ergab sich abends nach der Andacht noch eine kleine Gesprächsrunde, zu der ein junger Mann stieß. Er hatte sich sein neues Auto in Tromsö geholt und sich für die Fahrt nach Oslo, die normalerweise in zweieinhalb Tagen zu fahren ist, 14 Tage Zeit genommen und bestimmte Orte, so auch die Kapelle in dieser Poststation, aufgesucht. Er verdichtete im Gespräch den Gedanken, dass es Orte gibt, an denen die Grenze zwischen Erde und Himmel durchlässiger sei. Und hier fühle er das so. Ich konnte das sehr gut nachempfinden.
„Große Pause. Die Gedanken beruhigen sich. Innehalten. Ruhe.”
Du bist nur mit dir in diesem riesigen Raum, wohltuende Gerüche und Kirchenmusik. Du bist angekommen.
Im Pilgerbüro hinter dem Dom lege ich meinen Pilgerpass vor, bekomme die Urkunde und eine Stecknadel, die ich auf die große Weltkarte an der Wand auf meinen Herkunftsort stecken sollte. Sie erwarteten den 500. Pilger dieses Jahr. Entsprechend war die Karte schon bespickt: die meisten aus Skandinavien, zwei aus Österreich, zwei aus Baden-Württemberg. Ich konnte es kaum glauben: keiner aus dem restlichen Bayern, aber in Passau steckten schon zwei Stecknadeln!
Hans Schmöller