Inessa Goldman - Jüdin: Sie denkt beim Gebet besonders an ihre Kinder und Enkel
Jeden Morgen nimmt Inessa Goldman sich Zeit für das Gebet. Dazu zieht sie sich zurück in ihr Zimmer. „Für mich ist Gebet immer mit Dankbarkeit verbunden“, sagt die Jüdin. Sie dankt Gott für ihr Leben, für ihre Gesundheit und die ihrer Familie: „Ganz besonders denke ich dann an meinen Sohn, an meine Tochter und die zwölf Enkelkinder.“ Das Gebet beruhigt sie, sie denkt dann: „Ich habe etwas für sie gemacht und hoffe, dass es hilft.“ Heute legt sie in ihre Gebete ihr ganzes Gottvertrauen. Früher hat sie das nicht gedurft.
Die 69-Jährige ist in Lettland aufgewachsen. Religion und Glaube haben in ihrer Kindheit und Jugend keine Rolle gespielt. „Lettland war kommunistisch. Religion war bei uns verboten“, sagt sie. Wer sich zu seinem Glauben bekannte, bekam berufliche Schwierigkeiten. „Bei meinen Großeltern war der jüdische Glaube noch präsent. Aber uns nennt man die verlorenen Kinder“, sagt Goldman.
Erst als sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland kam, änderte sich das. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern zog sie nach Osnabrück – und traf auf den Rabbiner Marc Stern. „Er war ein Freund und ein Mentor für unsere Familie“, sagt sie.
Er habe ihnen alles über das Judentum, ihre Religion und den Glauben beigebracht. „Vor allem die Speisegesetze waren kompliziert für uns“, sagt sie und lacht. Aber Rabbi Stern habe sie immer motiviert. „Es ist häufiger passiert, dass er sagte: ‚Heute kann ich nicht bei euch essen, weil es nicht koscher ist. Aber ich bin mir sicher, dass ich morgen Abend bei euch zu Gast sein werde.‘ So haben wir gelernt.“
Jahrelang hat sich Goldman in der Bildungsarbeit engagiert. Sie zeigte Schülerinnen und Schülern, was es heißt, jüdisch zu sein. Sie brachte Thorarollen in den Unterricht, erklärte die Bedeutung des Schabbat und sprach mit den Kindern und Jugendlichen über das Gebet. „Beten ist eine Hilfe in jeder Situation“, sagt Goldman, die heute in der Nähe von Straßburg lebt. Wenn jemand krank ist, betet sie für Gesundheit. Wenn jemand ein Problem hat, bittet sie Gott um Hilfe. Und wenn jemand verreist, betet sie, dass niemand ihm auf dem Weg schaden möge.
Für ihr eigenes Gebet braucht Goldman Ruhe – sonst nichts. „Ich möchte alleine sein und mich auf die Texte konzentrieren“, sagt sie. Besonders gerne betet sie den Psalm 91. „Das sind sehr schöne Bilder: Gott, der uns schützt und verteidigt, auf den wir uns in jeder Gefahr verlassen können, der Engel schickt, uns zu behüten und zu tragen.“ Meist liest sie Stellen aus der Thora oder spricht ein vorformuliertes Gebet. „Wir sollen nicht still bleiben, sondern die Texte aussprechen“, sagt sie. Das helfe auch, sich nicht so leicht ablenken zu lassen.
Sie glaubt fest daran, dass das Gebet etwas bewirken kann. „Ich habe schon erlebt, dass das Gebet etwas verbessert hat“, sagt sie. Sie erinnert sich an eine Reise nach Israel zur Hochzeit ihres Sohnes, der dort Rabbiner ist. Sie und ihr Mann übernachteten bei einem Ehepaar. „Sie litten sehr unter ihrer Kinderlosigkeit. Als Dank für die Unterkunft habe ich für das Paar gebetet und auch meine Schwiegertochter darum gebeten, für das Paar zu beten“, sagt Goldman. Das Gebet der Braut vor der Hochzeit soll, so glauben es die Juden, besonders stark sein. „Ich weiß nicht, ob es unser Gebet war“, sagt Goldman. „Aber gut ein Jahr später bekam die Frau ihr erstes Kind.“
Für Goldman ist Beten wie eine intensive Meditation: „Wenn du betest, bist du mit Gott in einer Welt.“ Sie spreche zu ihm wie zu einem Vater: „Alle Sorgen, alles, was mich bewegt, kann ich ihm vortragen.“ Besonders beim Entzünden der Kerzen zum Schabbat am Freitagabend tue sie das: „Man sagt im Judentum: Die Ohren Gottes sind für die Frau geöffnet, wenn sie die Kerzen anzündet. Da kann sie ihn alles fragen und ihm alles sagen, was sie sich wünscht.“
Gabi Renneke - Christin: Sie schöpft Zuversicht und Kraft aus dem Gebet
Vor einigen Wochen traf Gabi Renneke im Supermarkt zwei ältere Frauen. Sie kannte sie nicht, kam aber an der Kasse mit ihnen ins Gespräch. „Sie machten sich große Sorgen um die Zukunft. Sie fragten: Was soll nur werden? Was wird aus unseren Kindern und Enkeln?“, sagt Renneke. Die Klima-Krise, der russische Angriffskrieg, die hohen Preise für Energie und Lebensmittel. All das beschäftigt auch sie. „Ich mache mir Gedanken, wie wir das alles stemmen können“, sagt die 48-jährige Mutter von drei Kindern. Bei all der Verunsicherung schöpft sie Zuversicht und Kraft aus dem Gebet.
„Das Gebet ist wie ein Anker für mich“, sagt sie. „Ich als kleiner Mensch kann nicht so weit schauen und denken wie Gott. Ich vertraue darauf, dass da jemand ist, der uns in schweren Zeiten begleitet. Dieses Gottvertrauen ist für mich entscheidend.“ Glaube und Gebet haben für Renneke schon immer eine wichtige Rolle gespielt.
Aufgewachsen ist sie in Westfalen in einer traditionell geprägten katholischen Familie. Zunächst sprach sie Gebete, die sie auswendig gelernt hatte: ein Abendgebet, das Vaterunser. „Aber da war immer das Gefühl: Da ist noch mehr“, sagt Renneke, die heute in Syke bei Bremen lebt.
Ihr Gebet entwickelte sich weiter. Als Jugendliche zweifelte sie und hinterfragte die Glaubenssätze der Kirche. Sie suchte das persönliche Gespräch mit Gott. Sie warf ihm ihre Sorgen und Fragen vor die Füße. „Das hatte etwas Befreiendes“, sagt sie.
Vor zehn Jahren erlitt Renneke überraschend einen Herzstillstand. Ihr drittes Kind war gerade erst wenige Monate alt, als sie zu Hause einfach umfiel. „Ich war bis dahin völlig gesund. Und auf einmal ging es um Leben und Tod für mich.“ Fast drei Wochen lag sie im Koma. Niemand wusste, ob sie wieder aufwachen und wie es ihr dann gehen würde. „Als ich wieder wach war, wusste ich sofort, welch ein Geschenk das ist, noch da sein zu können“, sagt sie. Ihr Glaube habe durch diese Krise eine andere Tiefe und das Gebet für sie eine größere Bedeutung bekommen, sagt Renneke. Das gesprochene Wort ist ihr nicht mehr so wichtig, sie hat das Gebet in Stille für sich entdeckt. „Aufgrund der Krankheit brauchte ich viel Ruhe. Das war wie Medizin für mich“, sagt Renneke.
Sie machte sich auf die Suche nach neuen Gebetsformen. Sie besuchte Kurse bei spirituellen Autoren wie Anselm Grün und las viele Bücher zu dem Thema. „Gott ist wie eine Quelle, die unerschöpflich ist“, sagt Renneke. „Aber wir haben den Weg zur Quelle vergessen. Ich habe gesucht und jeden Stein umgedreht.“
Fündig wurde sie in der Gebetspraxis der Benediktiner und Jesuiten. Heute begleitet vor allem das Jesusgebet sie durch ihren Alltag. Eine evangelische Pastorin, die für sie zu einer geistlichen Begleiterin wurde, lehrte es sie vor einigen Jahren. „Das Gebet ist mit dem Atem verbunden: Christus beim Einatmen, Jesus beim Ausatmen“, erklärt sie. „Das war gleich meins. Damit konnte ich Ruhe finden und intensiv meditieren.“
Mittlerweile habe sich das Gebet verselbstständigt, sagt Renneke: „Wenn ich manchmal tagsüber tief einatme, dann ist das Gebet da – ohne, dass ich mir vornehme zu beten.“ Mit Lectio-Divina-Gruppen macht sie online Bibel-Teilen und sie nutzt die App der Jesuiten „Pray as you go“. Sie engagiert sich in ihrer Pfarrgemeinde und bringt sich beim Projekt „Kirche der Beteiligung“ des Bistums Osnabrück ein.
Und sie ist Teil einer überkonfessionellen Gebetsgruppe. Zweimal monatlich nimmt sie sich abends eine Dreiviertelstunde Zeit, um zu beten. Die Gruppe trifft sich nicht, sondern jeder betet für sich zu einer verabredeten Uhrzeit zu Hause. „Im Gebet knüpft sich dann ein Netz. Wir fühlen uns untereinander und mit Gott verbunden“, sagt Renneke. Immer dabei hat sie eine Liste mit Namen von Menschen, für die sie betet. „Manchmal lese ich diese Namen nur leise vor und lege ihr Anliegen in Gottes Hände“, sagt Renneke.
Auch sie hat Menschen, die für sie beten, wenn sie Sorgen hat. Sie sagt: „Dieses Gebet füreinander tut gut und schafft untereinander eine besondere Verbundenheit.“
Tuba Isik - Muslima: Sie nimmt sich das Gebet als Auszeit
Ein Bissen Brot, ein Stück Apfel, ein Schluck Tee – wenn Tuba Isik etwas isst oder trinkt, verbindet sie das häufig mit einem Stoßgebet. „Dann sage ich den Namen Gottes und danke Gott für das Essen“, sagt die Muslima.
Kurze Gebete begleiten Isik durch ihren Tag. Die 40-Jährige ist Professorin für Islamische Religionspädagogik und Praktische Theologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie ist verheiratet und hat eine zweijährige Tochter.
„Das Gebet ist für mich eine aktive und bewusste Begegnung mit Gott“, sagt sie. Manchmal murmelt sie still einige Sätze, manchmal singt sie am Mittagstisch mit ihrer Tochter ein religiöses Danklied, manchmal betet sie in der Moschee.
Trotz ihres Berufs und des manchmal anstrengenden Familienalltags versucht sie, die für Muslime geltenden fünf Gebetszeiten am Tag einzuhalten. „Nicht, weil ich das als eine Pflicht begreife, sondern weil ich es als einen Hinweis Gottes verstehe, der mir sagt: Nimm dir immer wieder eine Auszeit für dich selbst.“ Im Koran stehe, dass Gott selbst nichts von dem Gebet habe, sagt Isik: „Gott sagt: Das hat etwas mit dir zu tun. Es soll dir guttun.“ Im Gebet konzentriert sie sich ganz auf Gott: „Ich bin nicht von ihm getrennt, sondern fühle mich eins mit ihm. Ich bin ganz in Gottes Gegenwart.“
Sie dankt ihm für alles Gute, für alles, was er gibt – und spricht das auch laut aus. „In dem Moment, in dem ich aufrichtig bete, glaube ich fest daran, dass Gott mein Gebet annimmt und es hört“, sagt sie. Am liebsten spricht Isik frei zu Gott. „Gott versteht mich. Ich kann mit ihm sprechen wie mit einer vertrauten Freundin, einem Vater oder einer Mutter“, sagt sie.
Sie sagt ihm alles, was sie bewegt: ihre Wünsche, Ängste, Befürchtungen, Sorgen und Probleme. „Auch meine Missgunst und meine Wut – alles, was ich im Herzen habe, kann ich vortragen.“ Im Gebet erkennt sie ihre guten und ihre fehlerhaften Seiten. „Das ist fast so, als stünde ich wie früher in der Schule an der Tafel“, sagt sie und lacht. Allerdings fühle sie sich nie bloßgestellt. „Gott empfängt mich, wie ich bin. Er sagt mir: Du bist in deiner Natur ambivalent, so habe ich dich geschaffen.“ Einzig verlange er, in ihr den Willen zu sehen, sich zu bessern. „So verstehe ich auch meinen Glauben: als Arbeit an meinem Selbst. Und Gott begleitet mich auf diesem Weg.“
Das Gebet verändert sie. „Gott spiegelt meine Gedanken. Er hilft mir, mich zu ordnen, mir etwas bewusst zu machen und daran zu arbeiten“, sagt die islamische Theologin. Im Gebet atmet sie innerlich auf. „Da entsteht in mir eine Leichtigkeit: Ich darf Fehler machen, ich darf so sein, wie ich bin.“ In schwierigen Zeiten sei das Gebet für sie immer wichtiger geworden, sagt Isik. Sie erinnert sich zum Beispiel an die Endphase ihrer Doktorarbeit, als sie erschöpft war und sich kaum noch konzentrieren konnte: „Da habe ich immer wieder koranische Verse zitiert. Am Ende klingen die wie ein Seufzer der Erleichterung. Da konnte ich alles loslassen. Ich fühlte mich im Gebet Gott ganz intensiv verbunden.“
Während ihres Studiums hat sie sich auch mit jüdischen und christlichen Gottesvorstellungen beschäftigt. Einer ihrer Doktorväter war der katholische Theologe Klaus von Stosch. Die Begegnung mit dem christlichen Gottesbild hat ihre Vorstellung von Gott verändert – und die Haltung beeinflusst, mit der sie zu ihm spricht. „In meiner Kindheit und in der islamischen Tradition habe ich einen gerechten Gott kennengelernt. In der Begegnung mit Jesus Christus ergriff mich die Vorstellung, Gott als Liebe zu denken“, sagt sie. „Heute glaube ich an einen gerechten, aber auch an einen sehr liebevollen und barmherzigen Gott, der voller Güte ist.“
Text: Kerstin Ostendorf