Sich auf das Wesentliche zu besinnen und bewusst auf vieles zu verzichten – das kann dem Leben nicht nur mehr Tiefe und Sinn geben, sondern auch richtig Freude machen. Keine Verabredung, kein Event, keine organisierte Freizeitaktivität. Zu Hause bleiben und mal nichts tun. Das kommt uns allen bekannt vor. Während des Lockdowns im Zuge der Corona-Krise blieb den Menschen vielfach gar nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben und Kontakte zu vermeiden. Daraus ist inzwischen ein neuer gesellschaftlicher Trend namens „JOMO“ geworden. Das ist die Abkürzung für „Joy of Missing Out“ und heißt übersetzt soviel wie „Die Freude, etwas zu verpassen“.
Der Lockdown im Frühjahr hat viele Menschen verständlicherweise hart getroffen: Lang geplante Familienfeiern mussten ausfallen oder verschoben werden. Ältere Menschen vereinsamten, weil sie sich nicht mehr unter Leute trauten. Kinder konnten nicht mehr ins geliebte Training. Erkrankte und Tote, verzweifelte Angehörige, Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust und Existenz-Ängste sorgten für Chaos und Ausnahmezustand.
Aber nicht alle sahen nur die Nachteile davon, wenn die Welt plötzlich den Atem anhält. Jeder hat auch Reaktionen erlebt wie die Bemerkung meiner Freundin, berufstätig und Mutter von zwei Jungs:
„Ich mag es gar nicht laut sagen, aber ich genieße es. Nirgends hinmüssen, kein Fußball-Training der Kinder, keine sonstigen Termine, nicht schon wieder das nächste Wochenende planen müssen, um es ‚sinnvoll‘ zu nutzen. Die Buben spielen im Garten oder die Familie macht gemeinsam einen Ausflug mit den Fahrrädern, zudem werden wieder alte Spiele hervorgeholt. Man hat mehr Zeit zum gemeinsamen Kochen und Essen. Und keiner in der Familie beschwert sich übers Daheimsein, weil es halt eh nicht anders geht!”
Eine andere Bekannte erzählte: „Mit Beginn des Lockdowns waren plötzlich meine beiden auswärts studierenden Töchter wieder zu Hause. Ich hätte mir nicht mehr vorstellen können, dass vier erwachsene Menschen monatelang so harmonisch in einer Wohnung zusammenleben, wenn man gar nichts unternehmen kann!“ Das sahen wohl viele so positiv: In einer Umfrage der „ZEIT“ im März 2020 erfuhr die Zeitung, dass mehr Menschen während des Lockdowns gut gelaunt waren als zu „normalen“ Zeiten.
Weniger ist mehr – könnte man das Sprichwort auch auf diese Ausnahmesituation übertragen? Und macht Verzicht vielleicht sogar glücklicher? Bedeutet dieses „Weniger“ ein „Mehr“ an Lebensqualität? „Eine bewusste Beschränkung kann auch ganz neue Freiheiten schaffen“, bestätigt der dänische Psychologieprofessor Svend Brinkmann von der Aalborg Universität. Der Wissenschaftler hat kürzlich im Polity Verlag ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „The Joy of Missing Out“ (JOMO). Der dänische Forscher rät dazu, „mehr zu leben, indem man weniger tut“. JOMO beschreibt die Einstellung, in der Freizeit nicht mehr überall dahin zu müssen, wo jeder gerade hinrennt. Ereignisse, Dinge, Aktivitäten bewusst zu verpassen. Aus freiem Willen und ohne schlechtes Gewissen Freizeit-Events sausen zu lassen. Und das auch noch zu genießen. Das gehe natürlich mit einem Ausstieg aus dem Konsumzwang einher, mit einer bewussten Auswahl, was das wirklich Wichtige im Leben ist. Das könne dem Leben aber auch Sinn, Tiefe und mehr Freiheit geben.
JOMO ist übrigens als Gegentrend entstanden zu dem viel bekannteren „FOMO“ („Fear of missing out“), also die Angst, etwas zu verpassen. Diese Angst wurde auch durch die Sozialen Medien beflügelt. Kein Wunder: Wer ständig zum Beispiel auf Instagram die (scheinbar) perfekten, sorgenfreien Leben der Menschen vorgeführt bekommt mit ihren tollen Beziehungen, ihren durchtrainierten Körpern und ihrer Aufsehen erregenden Freizeitgestaltung, der möchte auch gerne mithalten. Das macht viele Betrachter mit ihrem eigenen Leben unzufrieden. Der Konsument bekommt ja nicht mit, dass in dieser Scheinwelt hinter den Kulissen auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Das beste Rezept: Das Handy mal bewusst zur Seite legen. Und dafür lieber die (manchmal kleinen) Freuden des eigenen Lebens genießen. Eine Handvoll echter Freunde ist doch mehr wert als eine riesige Instagram-Gemeinde. Stundenlang im Internet die Leben anderer Menschen zu verfolgen – das bezeichnen auch immer mehr junge Menschen als „Verplempern kostbarer Lebenszeit“. Muss man wirklich jede gut inszenierte Cappuccino-Tasse bewundern, die jemand ins Netz gestellt hat, der gerade mal wieder in einem angesagten Café chic frühstückt? Muss man nicht! Stattdessen könnte man sich darüber freuen, mal wieder etwas (vermeintlich Wichtiges) verpasst zu haben.