Corona: „Was macht das alles mit den Menschen?“ Mit einer Online-Umfrage von Juli 2020 bis Januar hat der emeritierte Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner Antworten auf die Frage gesucht. Mehrere Tausend Antworten aus allen Kontinenten sind für ihn Zumutung und Ermutigung zugleich für die Verantwortlichen des öffentlichen Lebens ebenso wie für die einzelnen Menschen. Für den Altöttinger Liebfrauenboten und das Passauer Bistumsblatt fasst Zulehner seine Erkenntnisse exklusiv zusammen.
Bei allen neuerlichen Bedrohungen durch Mutationen des Virus: Es zeigt sich Licht am Ende des Corona-Tunnels. Impfstoffe sind in Sicht, auch wenn die Auslieferung holprig vor sich geht. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch viele Menschen atmen auf. Zaghaft wächst die Hoffnung, dass sich bald wieder „normales Leben“ einstellen kann: keine Ausgangssperren, kein Abstand, keine FFP2-Masken, herzliche Umarmungen, keine Angst vor Ansteckungen, keine Reisewarnungen, offene Gastronomie und gottesdienstliche Feiern für jene, die sie in der Zeit der Pandemie vermisst haben.
„Die Menschen werden nach der Erfahrung des ‚social distancing‘ Begegnungen mehr schätzen und suchen.“ Zwei von zehn der 12.200 Befragten in meiner interkontinentalen Corona-Online-Studie haben dieser Aussage zugestimmt. Und vier von zehn Befragten finden den Satz richtig: „Die Erfahrung der Verwundbarkeit des Lebens wird viele dazu bewegen, ihr Leben mehr zu genießen.“ Werden wir mehr schätzen lernen, was wir in der Zeit der Pandemie entbehren mussten? Ist Corona eine Art kollektiver Fastenkur für einen überhitzten Lebensstil, in dem wir die Akzente falsch gesetzt haben, weil wir uns zu wenig Zeit für unaufgeregte Mitmenschlichkeit gönnten? Immerhin halten es neun von zehn Befragten für wünschenswert: dass „wir uns mehr Zeit für Freunde und Familie nehmen“ werden.
PANDEMIEVERLIERER
Solche Zuversicht wird rasch gedämpft, blickt man auf die vorhersehbaren Nachwirkungen der Pandemie, die nicht weggeimpft werden können. Solounternehmen, Familienbetriebe oder Kunstprojekte stehen vor dem Aus. Viele Menschen sind auf Kurzarbeit gesetzt, andere haben ihren Arbeitsplatz verloren oder hegen begründete Angst davor. Die revolutionäre Informatisierung, welche wie einst die Industrialisierung zu einem Umbau des gesellschaftlichen Gefüges führen wird, wurde in der Zeit der Pandemie beschleunigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel vermerkte am 26.10.2020, dass eine soziale Frage auf uns zukomme. Sie wird den reichen Ländern viel abverlangen. Die Sorge ist groß, dass Kinder und Jugendliche, die durch den Lockdown der Schulen trotz Homeschooling in ihrer Bildung beeinträchtigt sind, über Generationen hinweg mit unserem Schuldenberg werden leben müssen. Noch mehr betroffen von der Pandemie und ihren Folgen sind die ärmeren Regionen der Erde. Sie konnten sich in der Corona-Zeit keine so opulenten Unterstützungen für die Bedrohten leisten. Sogar bei der Überwindung durch Impfen stehen sie abgeschlagen in der zweiten Reihe.
Zu den Verlierern der Corona-Krise zählen die während der Pandemie Vergessenen: die Migranten sowie das Klima. Sieben von zehn Befragten bedauern es, „dass in der Zeit des Lockdowns das Flüchtlingsthema in den Hintergrund getreten ist“. Und weil die Pandemie die armen Länder wirtschaftlich noch stärker getroffen hat als die reichen Länder, wird jene Migration zunehmen, welche sich hoffnungsloser Armut verdankt. Die immer noch vergleichsweise reichen Länder der Erde werden versuchen, sich gegen die andrängenden Armen abzuschotten. Viele werden in den überschwemmten Lagern wie auf Lesbos leiden, nicht wenige werden ihr Leben lassen. Aber auch der Versuch, sie durch grausame Zustände in Langzeitflüchtlingslagern abzuschrecken, wird scheitern. Wir versprechen schon lange eine Bekämpfung der Armut, die Sicherung des Friedens, die Schonung der Natur, um die drei großen Fluchtursachen abzuschwächen. Aber unsere Worte sind kräftiger als unsere Hilfe.
Manche haben gemeint, dass die Lockdowns dem Klimawandel eine Verschnaufpause gebracht haben. Faktisch aber, so die Berichte der UNO, haben sie dem Klima nur marginale Entlastung beschert. Dabei halten drei Viertel der Befragten „die Herausforderung durch die Klimakrise für weitaus schwerwiegender als jene durch die Covid-19-Pandemie“. Werden wir bei ihrer Bewältigung auch so geeint und entschlossen als Weltgemeinschaft auftreten wie ganz am Beginn der Covid-Pandemie?
NORMALITÄT
Wir sehnen uns wieder nach „normalem“ Leben. Für viele bedeutet das, so frei und opulent leben zu können wie vor der Pandemie, in die weite Welt zu reisen, Kreuzfahrten zu unternehmen, Urlaub in den Malediven zu machen. Die Hälfte der Befragten nimmt an, „dass die meisten Menschen weiterleben werden wie bisher“.
„Unsere Worte sind kräftiger als unsere Hilfe.”
(Nur) ein Drittel meint hingegen, „es wird sich viel ändern“. Diese Menschen hoffen auf eine „neue Normalität“. Sie wollen kein „Hochfahren“ des bekannten Betriebssystems, sondern wünschen tiefgreifende Veränderungen. Die Unterbrechung unseres Lebensbetriebs durch die Covid-19-Krise eröffne die Chance, einer „kranken Normalität“ (Papst Franziskus) zu entkommen. Viele in der Studie stimmen dem Papst zu. Es werde, so hoffen sie zuversichtlich, zu einem tiefgreifenden Umbau der Schlüsselinstitution Wirtschaft unserer Gesellschaft kommen. Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten von vielen Regelungen befreit und bestimmt längst die globale Entwicklung. Sie kann viele Erfolge vorzeigen. Zumindest in den städtischen Zentren der armen Regionen der Menschheit ist ein besseres Leben für viele möglich geworden. Aber, so fragen viele, ist der Preis dafür nicht hoch? Die Schere zwischen reich und arm tut sich weiter auf, nicht nur zwischen dem Norden und dem Süden der Erde, schon innerhalb Europas. Selbst in reichen Ländern gibt es zu viele Kinder, die unter der Armutsgrenze leben. Die Pandemie hat aufgedeckt, dass es große Bevölkerungsgruppen gibt, die sozial verletzlicher sind als andere. „Das Virus trifft alle gleich“, so war zu hören. Noch richtiger ist aber: „Das Virus trifft nicht alle gleich.“
NEUE WIRTSCHAFT
Hoffnung gebe es nur, so viele in der Umfrage, an der sich überdurchschnittlich viele Akademiker beteiligt haben, wenn das neoliberal-kapitalistisch geprägte Wirtschaftssystem in eine ökosoziale Marktwirtschaft umgebaut werde. Chancen dafür bestünden derzeit viele: Die staatliche Unterstützung der Konzerne oder von Fluglinien sollte verbindlich an nachhaltige ökologische Umbauprogramme gebunden werden.
Zum derzeit global dominanten Wirtschaftssystem gehört, so die Analysen der Kommentare in der Umfrage, dessen Bindung an die Konsumbereitschaft der Bevölkerung. Sie erinnern an den polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der angelehnt an den Philosophen Descartes formulierte: „Consumo ergo sum!“ (Ich konsumiere, also bin ich!) Gewerkschaften, welche in Gehaltsverhandlungen die Trumpfkarte der Stärkung der Kaufkraft ausspielen, kämpfen nicht nur für Arbeitsplätze, sondern stützen zugleich das neokapitalistische Wirtschaftssystem.
Wird es der globalisierten Wirtschaft gelingen, die großen Herausforderungen gemeinsam zu meistern: die neue soziale Frage, die durch die Digitalisierung ausgelöst und durch die Pandemie beschleunigt wird, sowie die ökologische Frage, um die Welt auch für kommende Generationen bewohnbar zu erhalten? Führenden Frauen und Männern auf der internationalen Bühne schwebt eine Entwicklung zu einer „ökosozialen Marktwirtschaft“ vor, welche jenen Kapitalismus ablösen könne, durch den die Armen wie die Natur leiden.
NACHDENKLICHKEIT
Während der Pandemie schrieb der Kölner Psychotherapeut Manfred Lütz in der „Rheinischen Post“ in einem Beitrag: „Oberflächliche Gewissheiten verschwinden, aber dadurch schaut man vielleicht auch mal ein bisschen tiefer. Tatsächlich ist es ja so, dass alle Menschen sterben müssen. Alle. Wir denken im Alltag nur nicht dauernd daran und das muss man auch nicht. Aber im Moment kann man dieser Realität weniger gut ausweichen. Und das Besondere ist, dass wir das alle gleichzeitig kollektiv erleben.“
Die Studie dämpft solche spirituelle Zuversicht, löscht sie aber nicht ganz aus. Lediglich Vier von Zehn stimmen der Aussage zu: „Die Menschen werden sich ihrer Verwundbarkeit und Sterblichkeit bewusster sein.“
„Die Menschen werden sich ihrer Verwundbarkeit und Sterblichkeit bewusster sein.”
Die Weisen der großen Religionen der Welt haben einmütig gelehrt, dass wir im Angesicht des Todes menschlich wachsen und reifen. „Herr, lehre uns unsere Tage zählen, damit wir ein weises Herz gewinnen“, so lässt uns der Psalm 90 singen. Sind wir in der Pandemie weiser geworden? Das hängt wohl auch damit zusammen, ob es uns gelingt, unsere angesichts der Verwundbarkeit tiefsitzende Angst vor der Endlichkeit und dem Tod zu zähmen. Wir leben immer mit dieser Angst, ob sie uns bewusst ist oder nicht. Die wachsende Zahl der Toten hat zumal bei Risikogruppen laut Studie vielfältige Ängste geweckt. Diese sind nicht grundlos. Wir können lernen, sie zu verstehen. Dabei werden wir keineswegs ständig mit dem „großen Tod“ konfrontiert, „den jeder in sich trägt“, wie Rainer M. Rilke dichtete. Vielmehr sind es oft die näheren Ängste, vor dem Verlust geliebter Menschen, denen wir nicht einmal beim Sterben beistehen können, vor dem Verlust der Arbeit oder dem Kollaps eines Familienbetriebs.
Nun gilt es aber, so lehren heute viele Fachleute, die sich mit dem Menschen und der Gesellschaft beschäftigen, dass es nicht nur darum gehe, die Angst zu verstehen, obgleich das schon sehr wichtig ist. Wichtiger ist es, zu lernen, in der Angst zu bestehen. Das gelingt, wenn Vertrauen stärker wird als die Angst. Vertrauen bildet sich in der kleinen familialen Welt, in er wir leben und einander trauen. Vertrauensbildend wirkt eine Politik mit ruhiger Hand, die zugibt, dass sie selbst am Lernen ist, an diesem Vorgang aber die Menschen maximal beteiligt.
Vertrauen ist nicht zuletzt ein großes Gut, das uns vertiefte Religion schenken kann. Religion dient nicht in erster Linie der Moral, sondern der Verbundenheit des Menschen mit Gott. Das beste Gegenmittel gegen unsere Angst, zumal jener vor dem Tod, ist Gottvertrauen. Viele in den Kirchen haben diese Lektion auch gelernt und in der Corona-Zeit praktiziert. Sie sind nicht nur den Vereinsamten zur Seite gestanden, haben sich um überforderte Alleinerziehende gekümmert, die mit dem Lernen daheim überfordert waren. Zu all dem aber haben kirchliche Gemeinschaften vielen Menschen in analogen und virtuellen Gottesdiensten jenes Vertrauen in Gott bestärkt, welches uns unaufgeregt auch in den Ängsten der Corona-zeit bestehen lässt. Gott war nicht im Lockdown.
Von Prof. em. Paul M. Zulehner