Heute ist alles anders als gestern – auf dem alten Friedhof in der oberbayerischen Kleinstadt. Heute ist es leise und bescheiden. Vielleicht liegt es an der frühen Stunde, es ist dreiviertel Acht, vielleicht auch am Novembernebel, der sich undurchdringlich wie graue Watte über die alten Bäume gelegt hat. Es ist kalt, die Nebelluft brennt beim Atmen, man zieht sich gerne einen Schal vor den Mund oder schlägt den Mantelkragen rasch hoch. Von den morschen blätterlosen Ästen plumpsen dicke Wassertropfen und löschen die Grabkerzen zischend aus. Man ist unter sich. Die lang schon Weggezogenen, die gestern für einige Stunden einfielen und das Allerheiligenschaulaufen um den schicksten Mantel und das dickste Auto bestimmt hatten, sitzen längst wieder in der großen Stadt in ihren Büros oder in ihren Ferienfliegern Richtung Wärme.
An Allerseelen stehen an den Gräbern nur die, die schon immer hier leben und gelebt haben. Es sind überwiegend die Frauen, Töchter, Enkelinnen und Nichten der alten Bauerngeschlechter, aus alteingesessenem Gewerbe und Handwerk und Angehörige der wenigen Beamtenfamilien des Orts. Männer sieht man kaum.
Anders als gestern trägt man heute gedeckte warme Alltagskleidung. Der alte Ortspfarrer spricht seine Gebete und Fürbitten „unplugged“, kein blechern scheppernder Lautsprecher und keine schrill pfeifende Rückkopplung stört die Andacht. Nach einer halben Stunde ist das Gedenken vorbei. Es wird geschäftig, denn jetzt besuchen sie die Gräber früh verstorbener Schulfreunde, ehemaliger Nachbarn und Arbeitskollegen, aber auch entfernter Verwandter, für die am Allerheiligentag keine Zeit blieb.
Irgendetwas treibt die Friedhofsgeher an. Aus den Mantel- und Handtaschen nesteln sie rasch rote Grabkerzen, „Seelenlichter“ sagen sie heute dazu, stellen sie auf die Gräber und zünden sie an. Sie sollen, so ihre traditionelle Vorstellung des Allerseelentags, ein Wegweiser in die Ewigkeit für ihre Toten sein.
Allerseelen geht, so sind sich alle Überlieferungen einig, auf Odilo von Cluny zurück, der den Gedenktag für die armen Seelen im Jahr 998 eingeführt hat. Papst Benedikt XV. erklärte ihn erst 1915 für die gesamte katholische Kirche als verbindlichen Feiertag.
In den örtlichen Cafés macht man sich unterdessen bereit für den Ansturm der Friedhofsbesucher. In den Kuchentheken liegt das typische Allerseelengebäck der Region aus: Üppig mit kleinen roten Marzipanblüten und bunten Liebesperlen dekorierte Allerseelenwecken aus Biskuitteig, zu Dutzenden. In ihrer Form unterscheiden sie sich etwas, der eine Bäcker bevorzugt die Raute, der andere Laden, nur wenige Schritte entfernt, mehr die abgerundete Ellipse. Seelenschiffe: Unter der gefärbten Fondantmasse liegen mindestens drei bis vier Schichten aus Buttercreme, Schokocreme und süßer roter Marmelade. Es gehört zur Tradition, dass am heutigen Allerseelentag „Godn und Göd“, wie die Patin und der Pate hier noch genannt werden, ihren Patenkindern Allerseelenwecken schenken und so den zweiten Gedenktag der Seelwoche versüßen. Mit einem „Vergelt‘s Gott für die armen Seelen“ nimmt man das süße Naschwerk ungeduldig an. Mittlerweile gibt es in der kleinen Stadt in Südostbayern nur mehr die üblichen sterilen Bäckereifilialen mit Backstationen. Der Allerseelentag ist ein normaler lauter Werktag, es findet keine Frühmesse mehr statt, der kleine, feine, bescheidene Gräberumgang ist nur mehr eine blasse Erinnerung – genauso wie das Verschenken der Allerseelenwecken.
Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, sich an die Traditionen und Legenden zu erinnern, die den Allerseelentag gerade in Schwaben und Altbayern so besonders machten; etwa Erzählungen, dass Sünder an Allerseelen einen Tag lang als Kröten aus dem Fegefeuer kriechen dürften und dass sogar einmal die unerlöste Seele eines Räubers in Krötengestalt von der Steiermark bis Altötting gewallfahrtet sei. Auch ein merkwürdiges Summen machte man gerne in der Woche um den ersten November aus: die armen Seelen jammern heute wieder, sagte man dann, überzeugt davon, dass in der Seelwoche und ganz besonders an Allerseelen die Geister der Toten sich von den Qualen des Fegefeuers erholten, in ihrer alten vertrauten Welt umherwanderten und ihre Verwandten aufsuchten.
Überliefert ist, dass man für die armen Seelen die Stuben heizte, damit sie sich wärmen konnten, leere Pfannen vom Herd nahm, Messer nicht mit der Schneide nach oben legen durfte und vielerorts sogar nachts Teller mit Hirse‑, Gries- oder Bohnenbei und Kuchen auf den Küchentisch stellte, damit die Geister der Toten etwas zu essen hatten. Und um ihnen den Weg in die Ewigkeit zu weisen und sie vom Haus zu bannen, betete man jetzt täglich einen Seelenrosenkranz und zündete dabei eine Kerze an.
In Feichten/Alz backen Ministranten Seelenzöpfe – Impressionen
Fotos: Tine Limmer
Das Besondere am Allerseelentag ist aber das Backen und Verschenken von Kult- oder Totenbroten, seien es Seelenzöpfe aus Hefe- oder Blätterteig, Seelenwecken aus Biskuit- oder Lebkuchenteig oder Allerseelenbrezen wie in Schwaben. Dort kredenzte man den Verstorbenen ein sogenanntes Seelenmahl aus süßem Gebäck und Brezen, das auf die Gräber gestellt wurde. Brezen hängte man in manchen Gegenden sogar an die Grabkreuze. Sie wurden dann von den Dorfärmsten und Kindern nach den Gräberumgängen eingesammelt. Aus dem Bayerischen Wald ist überliefert, dass noch bis weit in die Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts arme Menschen um Allerseelengebäck bettelten: „Die Armen gingen in die Seelenwecken“, sagte man dazu.
Weitaus verbreiteter ist der Brauch der Seelenzöpfe, glaubte man doch in vorchristlicher Zeit, dass in den Haaren die Seele wohnte und man durch das Abschneiden des Zopfes den Toten ein Opfer brachte. In der christlichen Tradition interpretierte man die drei Zopfstränge als Sinnbild der Heiligen Dreifaltigkeit und das Flechtwerk als Symbol der Ewigkeit.
Die Ministrantengruppe um Regina Zenz in Feichten an der Alz im Landkreis Altötting jedenfalls ist überzeugt, dass vier Stränge den idealen Seelenzopf ausmachen. Seit einigen Jahren haben die Kinder und Jugendlichen dort den Brauch des Seelenzopfbackens wiederbelebt, angeregt von der engen Verwandtschaft aus dem nahen Chiemgau. Und nicht zuletzt suchten die engagierten Minis auch nach einer Geldquelle, um ihre gemeinsamen Romreisen oder caritative Spendenvorhaben zu finanzieren.
Und so treffen sie sich jedes Jahr kurz vor Allerheiligen in der Schulküche des ehemaligen Feichtener Schulhauses, um zu kneten, flechten, backen und zu verzieren. „Zwei Kilo Weizenmehl ergeben um die 20 Zöpferl“, sagt Regina Zenz und gibt dann das einfache Rezept zum Nachbacken des Hefeteigs preis: „2 kg Weizenmehl, Hefe, 2 l Milch, 2 – 3 Eier, 3 EL Zucker, eine Prise Salz und etwas Zitronenabrieb.“ Bestrichen werden die Zöpfe nach dem Backen mit einer einfachen Puderzuckerglasur. Die Feichtner Ministranten warten auch heuer vor den Kirchentüren am Allerheiligentag auf Abnehmer ihrer süßen Allerseelenzöpfe. Gegen eine Spende versteht sich.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank