Sie ist Bayerin durch und durch. Und das nicht nur, weil sie in der von Kurfürst Maximilian I. in Auftrag gegebenen, berühmten „Bavaria Sancta“ gleich im ersten Band hinter der Patrona Bavariae zu finden ist. Es ist ihr Lebenslauf, es sind die ihr im Martyrologium Hieronymianum, einem Heiligen- und Märtyrerverzeichnis aus dem 7. Jahrhundert, zugeschriebenen Charakterzüge: rätselhaft, faszinierend, bisweilen etwas schillernd bis hin zu einer bodenständig gelebten Derbheit – all das, was man den Bayern gerne so nachsagt. Und zwar seit den Tagen der Merowinger und Agilolfinger.
Obwohl Afra genau genommen eine Schwäbin, eine Augsburgerin ist – unabhängig davon, ob sie tatsächlich am Lech geboren wurde oder, wie es die Legende sagt, an den weit entfernten Gestaden Zyperns. Dort, wo auch Aphrodite, die schaumgeborene Göttin der Liebe und sinnlicher Begierde, aus den Wassern stieg. Und schon sind wir mitten in den venusischen Verwicklungen, die Afra als Verballhornung von Aphrodite verstanden wissen wollen – als Bordellbesitzerin, Boaznwirtin oder gar Liebesdienerin selbst. Veneria steht im bereits erwähnten und historisch in Frage zu stellenden Martyrologium Hieronymianum, das um die 6000 Biografien christlicher Blutzeugen aus römischer Zeit kalendarisch auflistet, neben einer Afra aus Augusta Vindelicorum, dem heutigen Augsburg. Interpretiert wurde der Frauenname – man kennt ihn von der heiligen Veneria, einer Märtyrerin aus Mailand – als Berufsbezeichnung, nämlich der einer Dame des horizontalen Gewerbes. Dass Afra aber auch eine Zuschreibung für eine Frau sein kann, die aus der römischen Provinz Africa, dem heutigen Tunesien, stammt und dies auch für eine Frau namens Veneria gelten kann, die möglicherweise in Sicca Veneria, einer nordafrikanischen Bischofsstadt zuhause war, sollte in Betracht gezogen werden. Aussehen, Hautfarbe und Herkunft spielten bei den Römern keine Rolle.
Die Geschichte eines gefallenen Mädchens, einer verarmten Königstochter gar, die von ihrer Mutter zur Prostitution gezwungen wird, ihre Sünden bereut, sich taufen lässt und gegen alle Widerstände an ihrem Glauben festhält bis in den qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen, zeichnet ein literarisches Bild, dem bis heute Romane und Hollywoodfilme verfallen sind, das aber wie auch im Falle der heiligen Afra wenig fassbar bleibt. Dass es spätestens seit dem Mittelalter eine zweite, quasi parallele biographische Überlieferung über die Heilige gibt, die vor allem in Augsburg und Umgebung tradiert wird, nimmt man nur wenig wahr. Hier ist stets die Rede von einer jungfräulichen Märtyrerin, die um 304 während der Christenverfolgung unter Diokletian den Feuertod auf einer Lechinsel fand, zusammen mit 30 weiteren Christen. Man soll Afra an einen dürren Baum gebunden haben; römischen Quellen zufolge wurde sie enthauptet.
Ihre Leidensgeschichte gehört zu den frühesten christlichen Glaubenszeugnissen nördlich der Alpen, ihre Verehrung lässt sich, historisch gesichert, bis auf die Zeit der Merowinger im 4. Jahrhundert, also unmittelbar nach dem Tod der Heiligen zurückführen. Die Legende erzählt, dass die Grabstätte Afras beim zweiten Meilenstein vor der Stadt angelegt worden sei; zur römischen Zeit befand sich dort bereits ein Friedhof.
Archäologische Funde weisen tatsächlich auf einen frühen Kultort der Heiligen vor der Stadtgrenze hin, der geographisch im Bereich der heutigen Basilika St. Ulrich und Afra liegt. Er wurde vom merowingischen Klerus und Adel und später von karolingischen Bischöfen als Bestattungsplatz genutzt, wohl ad sanctos, um im Tode möglichst nahe beim Grab der Märtyrerin zu liegen.
Ab dem 6. Jahrhundert setzt die Wallfahrt zum Grab der Heiligen Afra ein. Der italienische Dichter und spätere Bischof von Poitiers, Venantius Fortunatus, schildert 575 in seinem Epos über das Leben des heiligen Martin von Tours eine Reiseroute durch das Gebiet der Baiovarii, also der Bayern. Und er empfiehlt unbedingt in Augsburg Halt zu machen, um dort in einer Kapelle die „Gebeine der heiligen Märtyrerin Afra zu verehren“. Er hatte bereits zehn Jahre zuvor die Stadt am Lech besucht. Venantius gilt somit als früher, historisch verlässlicher Zeuge des Augsburger Afrakults. Auch hier bestätigen wieder archäologische Funde die zeitgenössische Überlieferung: ein Steinfundament aus dem frühen Mittelalter im Bereich des Gräberfelds um die Basilika St. Ulrich und Afra wird als Überrest eines kirchlichen Gebäudes bewertet, der wohl ersten Afrakirche Augsburgs, die bereits 582 zur Bischofskirche erhoben wurde. Ebenfalls als Hinweis auf die frühe Wallfahrt zum Grab der Afra sind die auffallend vielen Afra-Patrozinien in der Nähe von Römerstraßen, die nach Augsburg führten, zu sehen. Es handelt sich dabei wohl um Stationspatrozinien auf dem Weg zum Kultort der Augsburger Heiligen.
Bischof Ulrich von Augsburg selbst forciert den Afrakult im 10. Jahrhundert vor dem Hintergrund der steten Bedrohung durch die Ungarneinfälle. Er ist besessen von der Suche nach dem Grab Afras, traut sich aber ihre Totenruhe nicht zu stören. 1064 wird ein römischer Sarkophag beim Bau der Augsburger Basilika gefunden; er birgt die sterblichen Überreste eines weiblichen Verbrennungsopfers. Die Verehrung Afras erlebt daraufhin einen Höhepunkt, insbesondere in Deutschland und Frankreich. Afra-Reliquien kommen „in Mode“ ebenso wie ihre Patrozinien – in den Bistümer Augsburg, Konstanz, Freising, Bamberg, Basel, Salzburg, Worms, Köln, Trier bis hinunter nach Brixen in Südtirol, nach Holland und Frankreich. Frauenorden erwählen sich Afra zu ihrer Patronin. Die Heilige gilt als Fürsprecherin für Büßerinnen, der armen Seelen, für Heilkräuter und reuige Freudenmädchen. Sie wird bei Feuersnot angerufen. Nur wenige sogenannte Bauernregeln werden mit der heiligen Afra in Verbindung gebracht; für die Landbevölkerung ist sie wohl immer eher eine Stadtheilige geblieben, heißt es doch: „Wenn an Sankt Afra Regen fällt, den Bauern er noch lange quält.“
Anlässlich der 1500-Jahrfeier des Todes der heiligen Afra wurde ihr Sarkophag nochmals geöffnet; die Gebeine setzte man in einem Marmorsarg bei. Seit Anfang der 1960er-Jahre ruht sie Seite an Seite mit dem heiligen Ulrich in der Krypta der nach ihnen benannten Basilika.
So wild und schillernd ihre angeblichen biographischen Anfänge waren, so ruhig ist es heute um Sankt Afra geworden, die als Frau, als Vorbild, als Heilige gerade erst wieder entdeckt wird.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank