Pragreisende und Besucher des Bamberger Doms kommen an ihm gar nicht vorbei. Nicht anders ergeht es den wenigen, die es ins ferne Mönchengladbach zieht. In Ober- und Niederbayern sowie im österreichischen Inn- und Mühlviertel ist er ebenfalls als Kirchenpatron populär. Alte Friedhofskapellen tragen gerne seinen Namen, galt er doch vor Jahrhunderten als Fürsprecher in der Sterbestunde. Seine besondere Nähe zu den Engeln ließ die Sterbenden auf Erlösung hoffen, wie sie ihm selbst zuteilgeworden war. Die Diener und Boten Gottes hätten ihn nicht nur spirituell sein Lebtag lang begleitet, sondern auch aus der qualvollen Marter errettet. Denn der Legende nach war der 13-jährige Sizilianer auf Geheiß des römischen Kaisers Diokletian in siedendes Öl geworfen worden. Er wollte seinem christlichen Glauben nicht abschwören. Überall in Europa tragen Orte seinen Namen. In Italien gehört er anders als in Deutschland immer noch zu den beliebtesten Männervornamen, den Marlon Brando in Coppolas „Der Pate“ in Hollywood unsterblich machte. Und er ziert vielerorts Plattenschränke und CD-Racks, besonders bei Liebhabern der härteren Metalle: Der heilige Vitus, landläufig in Bayern eher als Veit bekannt, einer der Vierzehn Nothelfer und mit über 30 Patronaten quasi vielbeschäftigt, obgleich er seinen Bekanntheitsgrad als Schutzheiliger in der letzten Zeit etwas eingebüßt hat. Sein Gedenktag ist der 15. Juni; in den Ostkirchen, wo Vit oder Vidovdan als einer der wichtigsten Heiligen verehrt und über viele Jahrzehnte als politische Identifikationsfigur des nationalistisch ausgerichteten Panslawismus galt, feiert man ihn am 28. Juni.
Die Verehrung Veits wäre wie die des heiligen Johannes Nepomuk zunächst nur eine böhmische Angelegenheit gewesen, heißt es: Von Prag aus solle der Heiligenkult um den Schutzpatron der Gastwirte, Bierbrauer, Winzer, Kupferschmiede, Tänzer und Schauspieler und noch vieles mehr zu den westlichen Nachbarn gewandert sein. Dagegen spricht, dass sich der Heiligen- und Reliquienkult um San Vito, wie er in Italien heißt, bereits im 6. Jahrhundert von Süditalien über Oberitalien nach Frankreich und Deutschland ausgebreitet hatte. Dabei bemerkenswert ist, dass die Heiligenverehrung Veits in ihren Anfängen nicht nur eine unverhohlene politische Note besaß. Auffallend ist auch, mit welch hoher geographischen Dynamik sich der Kult innerhalb von 250 Jahren entwickelte. 583 hatte man die Gebeine des heiligen Vitus aus Sizilien nach Lukanien gebracht, 756 dann nach Frankreich in die Abtei St. Denis bei Paris, von dort überführten sie die Karolinger 836 nach Corvey im heutigen Nordrhein-Westfalen. Die Benediktinerabtei Corvey, seit 2014 ein UNESCO-Weltkulturerbe und von französischen Mönchen gegründet, galt im frühen Mittelalter schnell als das Zentrum der Veitverehrung überhaupt.
Bald schon wurde der Heilige als der Stammespatron der Sachsen angesehen, die das heutige West- und Norddeutschland bis in die heutigen Niederlande besiedelt hatten. Die Liudolfinger sollten ihn dann wenig später zum Schutzherrn ihres Kaiserreichs machen, die Darstellungen des jungenhaften Heiligen verändern sich damit. Er ist jetzt nicht mehr der Märtyrer mit der Märtyrerpalme, sondern der Reichsheilige mit dem Reichsapfel.
Von Corvey aus zogen Wandermönche und ‑bischöfe nach Skandinavien und Osteuropa, um zu christianisieren. Im Gepäck hatten sie die „Passio Sancti Viti“, die Legende über das Leben und Sterben des heiligen Vitus, die um 600 erstmals schriftlich niedergelegt wurde. Es ist anzunehmen, dass die Geschichte Veits überall auf den Missionsreisen erzählt wurde. Vitus entwickelte sich so nicht nur zu einem ersten paneuropäischen Heiligen, er wurde möglicherweise auch zu einem beliebten Vexierbild für alle, die sich unter seinen Schutz stellten. Wie sollen sich all seine unterschiedlichen Patronate sonst erklären – vom Apotheker über den Hund bis zum Bettnässer.
Wallfahrer aus ganz Europa kamen an die Weser, um die zahlreichen Veit-Reliquiare zu sehen, anzubeten und auch käuflich zu erwerben. So soll Bischof Otto von Bamberg bei seinen Missionsreisen nach Pommern ein silbernes Reliquiar mit den sterblichen Überresten Veits, das von einem Hahn gekrönt war, verwendet haben. Der Hahn galt bei den Slawen als heiliges Opfertier für ihren Lichtgott Svantevit – die Namensähnlichkeit mag Zufall sein, die Bekehrungsbemühungen waren von Erfolg gekrönt. Geblieben ist aus dieser Zeit bis ins 18. Jahrhundert auch in unseren Breiten der Brauch, schwarze Hähne und Hennen mit zusammengebundenen Beinen am Veitstag in der Kirche auf den Altären abzulegen.
Auch der böhmische Herzog Wenzel wallfahrtete nach Corvey, wo er eine Armreliquie Veits erstand, für die er in Prag im 10. Jahrhundert eine Kirche errichten ließ. Sie wird Jahrhunderte später als die wohl berühmteste Kirche des heiligen Vitus gelten und als Veitsdom nationale Geschichte schreiben. Seit 1355 wird das Haupt Veits in der tschechischen Hauptstadt aufbewahrt. In der Renaissance kamen weitere Reliquien des Heiligen dazu, die in Norditalien erworben worden waren. Prag und sein Veit überstrahlen seither alle anderen Orte, die Reliquiare des Heiligen besitzen – es sollen an die 150 sein – oder sich St. Vitus als Patron auserkoren hatten. Bis heute sind dies 1300 Kirchen und Kapellen überall in Europa. Dazu gehören Neumarkt-St. Veit im Rottal genauso wie die Vituskirchen in Eholfing bei Ruhstorf, in Hauzenberg, in Kirchweidach, in Tittling oder gar das Ettendorfer Kircherl in Traunstein. 34 Kirchen sind allein im Bistum Augsburg dem Heiligen aus Sizilien geweiht. Bayern ist also kirchlich gesehen das wahre Veitsland – zugegeben vielleicht in ähnlicher Weise auch Gegenden an Rhein und Ruhr.
Wahr ist, dass der heilige Veit hierzulande einen absoluten Spitzenplatz hält, was die Zahl, der sich auf ihn beziehenden Wetterregeln anbelangt, begann man doch an seinem Ehrentag seit dem Spätmittelalter bis zur gregorianischen Kalenderreform 1582 die Sonnenwende. „Wir kommen von Sankt Veit, gebt’s uns an Scheit“, hieß es im bayerischen Oberland noch Ende des 19. Jahrhunderts, wenn es um das Holzsammeln für die Sonnwendfeuer, die Veitsfeuer, ging.
„Heiliger St. Veit, wecke mich zur rechten Zeit; nicht zu früh und nicht zu spät, bis das Glöcklein schlägt.”
In den landwirtschaftlich geprägten Regionen Bayerns ist Veit der traditionelle Patron der Sommersonnwende auf eine gewisse Weise bis heute geblieben, „Hier mag die Sunn nit höher“, sagt man sich beim Blick auf den Sonnenstand. Sein Tag gilt weiterhin als der Wetterlostag der Jahresmitte, für Bauern, Gärtner und Winzer gleichermaßen, denn „nach St. Veit wendet sich die Zeit, alles geht auf die andere Seit“. Mit dem Sommeranfang am Veitstag beginnt die Heuernte, die Bauern hoffen auf ein trocknes Wetter, denn „Heiliger Veit, regne nicht, dass es uns nicht an Gerst‘ gebricht“. Die Winzer gehen in die Weinberge, um einen ersten Eindruck des neuen Weins zu bekommen, denn „ist der Wein abgeblüht auf St. Vit, so bringt er ein schönes Weinjahr mit“.
Um den 15. Juni herum entwickeln viele Kräuter ihre höchste Heilkraft. Jetzt ist die Zeit, sie zu schneiden und zu trocknen. Dazu gehören Brennnessel, Kamille, Spitzwegerich, Frauenmantel, Baldrian, Dost, Giersch und der dann besonders aromatische Waldmeister, außerdem der Holunder. „Wer Veit nicht traut, kriegt auch kein Kraut“, so lautet eine der Handlungsanweisungen, die zum Pflanzen von Kohlsorten für den Winter auffordert. Und auch die Schwammerlsucher, die es jetzt zu Massen wieder in die Wälder treibt auf der Pirsch nach Maronen und Millibrätling, kommen bei Veit nicht zu kurz, soll doch Regen am 15. Juni die Schwammerl wie verrückt aus dem Boden schießen lassen.
Dass Veit ein echter Sommerheiliger mit großem Verständnis für Sommernächte, fürs Draußen sitzen im Biergarten und fürs Genießen lauer Abende ist, und deshalb fürs pünktliche Aufwachen angerufen werden kann (wohl ganzjährig gültig) ist im Zeitalter des Handy- und Smartwatch-Weckens mehr als charmant: „Heiliger St. Veit, wecke mich zur rechten Zeit; nicht zu früh und nicht zu spät, bis das Glöcklein schlägt“.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank