Krieg, Angst und Not fressen sich tief hinein in die Erinnerung. Sie bleiben dort, so lange man lebt. Bei manchen Menschen sind diese Erinnerungen dicht mit Lebenshass verwoben. Da fällt das Zuhören schwer. Die Worte sind schneidend, der Klang der Sätze bitter. Hoffnungslose Klagelieder, die die Seele nicht erleichtern. Sehr viel öfter freilich lassen einen ältere Menschen an fesselnden Erzählungen teilhaben. Sie breiten ihr Leben vor einem aus und man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie erzählen aus einer Welt, die so weit weg von den eigenen Erfahrungen ist wie ein Science-Fiction-Roman, der weit in die Zukunft blickt. Lichtjahre. Es ist ein großes Glück, wenn solche Menschen die Schatzkisten ihrer Erinnerung öffnen. Man muss sich nur die Zeit nehmen, aus der Hast des Alltags kurz aussteigen, sich auf das Tempo der Geschichten einlassen. Man lernt daraus so viel – auch dass es um die eigene Lebenswelt vielleicht doch nicht ganz so schlimm bestellt ist, wie uns manche glauben machen.
Auch meinen Vater, 1931 geboren und vor zwei Jahren verstorben, ließen die prägenden Jugendjahre während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder los. Er hat in den Wirtschaftswunderjahren – wie so viele andere Frauen und Männer dieser Zeit – unglaublich viel geschaffen: eine Familie gegründet, Haus gebaut, mehrere Berufe erlernt und ausgeübt. Doch wenn er im Herbst seines Lebens zu erzählen begann, schaute er meist zurück auf ein kleines Dorf im Bayerischen Wald, auf ein Haus ohne anwesendem Vater, in dem die Not wohnte, auf Nächte in kalten Dachböden, auf die harte Arbeit als Knecht, auf ein beständiges, alles überlagerndes Gefühl: Hunger. Eine Anekdote fehlte deshalb nie: Wie peinlich es war, bei den Bauern um Brot zu betteln, wer etwas gab und wer ihn wegschickte.
Neulich kam ich mit einem seiner Brüder genau auf dieses Kapitel zu sprechen. Er erinnerte sich sogar noch an die Worte einer Bäuerin, die sie weggeschickt hatte: „Wir haben selber ned genug, geht‘s weiter!“ Abgenommen hat er ihr das nicht. Ganz anders die Reaktion auf das Klopfen der Buben an der Haustür auf einem ähnlich großen Hof im Nachbarort: „Da haben wir immer ein Stück Brot bekommen“. Und seine Augen glänzen, während er das sagt. Fast 80 Jahre später. Diese Scheibe Brot, ein einziger glücklicher Augenblick, hat sich im Laufe der Jahrzehnte in einen Goldklumpen verwandelt.
Die Texte der Bibel erzählen oft davon, dass sich in der Güte die Liebe Gottes offenbart. Sind das uralte Geschichten, fern unserer Lebenswelt? Die Anekdote der beiden Brüder sagt mir, dass es eine zeitlose Wahrheit ist: Ein gutes Herz kann den Lauf der Welt verändern. Einzelne Menschen können den Unterschied machen.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur