Auf einmal war es wieder da, gefühlt Mitte/Ende der 1990er-Jahre, in Volkshochschulkursen, bei katholischen Frauengemeinschaften, im adventlichen Hoagart örtlicher Trachtenvereine, in Radio- und Fernsehbeiträgen. Ja, selbst Landwirtschaftsschulen, hauswirtschaftliche Berufsschulen oder Lehrgänge für erzieherische Berufe nahmen es in ihre Lehrpläne auf. Der Zuspruch schien enorm. VHS-Dozentinnen stellten Wartelisten auf, Fahrgemeinschaften volkskundlich Interessierter bildeten sich, um, den schlechten Straßenverhältnissen zum Trotz, vor dem Advent noch einen der begehrten Bastel- und Bindekurse besuchen zu können.
Das urplötzlich aufgetretene Interesse galt einem eigentümlichen, wie eine Pyramide aussehenden, Holzgestell aus Weiden- oder Haselnussstecken, roten Äpfeln, drei roten, bisweilen auch liturgisch korrekten, violetten Kerzen sowie einer einzelnen in Rosa für den Gaudete-Sonntag und jeder Menge Buchs. Paradeiserl sagte man dazu. Es sei die altbayerische, längst vergessene Version des ursprünglich evangelischen Adventskranzes, hieß es damals. Manche wollten es auch als Vorläufer des, ebenfalls in evangelischen Familien, bevorzugten Weihnachtsbaums verstehen.
„Paradeiserlzeit“ – Ausstellung in Neuötting
Im Stadtmuseum Neuötting (Ludwigstraße 12) läuft noch bis zum 6. Januar die Ausstellung „Paradeiserlzeit – Weihnachten wie es früher war“. Mehr Infos zur Ausstellung im Internet unter www.stadtmarketing.neuoetting.de.
Sie lagen mit ihrer Vermutung gar nicht so falsch, denn die Symbolkraft der Farbe Grün als Farbe des Lebens, der Wintersonnwende und des nahenden Frühjahrs ist bereits seit der Antike bekannt. Die Römer feierten zwischen dem 17. und 23. Dezember die Saturnalien, zu Ehren Saturns. Er galt als Herr des Goldenen Zeitalters, eines idealen paradiesischen Zustands. Geschenke wurden ausgetauscht, Orgien gefeiert und Rollenspiele veranstaltet, aber auch immergrüne Bäume wie Zypressen oder Lorbeer geschmückt, die als Fruchtbarkeits- und Lebenszeichen angesehen wurden.
Dass die frühen Christen den Gedenktag für Adam und Eva auf den 24. Dezember legten, mag und kann ein Zufall sein. Festhalten sollte man aber den Gedanken, dass die beiden ersten Menschen das paradiesische Ideal verlassen mussten, weil sie von einem immergrünen Paradiesbaum, dem Baum der Erkenntnis, einen Apfel gegessen hatten. Die Wirkmächtigkeit des Apfels oder auch des Granatapfels, botanisch gesehen eine Beere, taucht in vielen Texten, Liedern und Legenden auf. Er galt als das Symbol der Liebe, Fruchtbarkeit und des ewigen Lebens schlechthin, wird aber bis zum Mittelalter in der christlichen Symbolik nur mehr als verbotene Frucht gesehen.
Theologisch entwickelt sich im 11. Jahrhundert die Vorstellung des Apfels als einer Frucht der Gnade, die die Liebe zwischen Christus als dem „neuen Adam“ und der Kirche, verkörpert durch Maria als der „neuen Eva“, versinnbildlicht. Der Apfel in der Hand Mariens ist jetzt, so kann man nachlesen, „Symbol der Überwindung des Todes und der Erlösung von der Sünde“ geworden. Nicht nur die Madonnenplastiken aus dieser Zeit künden von der neuen Sichtweise, auch in den Kirchen werden für die Paradiesspiele, die am 24. Dezember, vor den Krippenspielen stattfinden, Nadelbäume aufgestellt.
Im Paradiesspiel pflückt Eva dann von Tanne oder Fichte, dem symbolischen Paradiesbaum, einen roten Apfel. Hier ist sicherlich eine der Wurzeln des Paradeiserls zu sehen. Im Böhmischen und in Schlesien kennt man ähnliche adventliche Aufbauten, auch der erzgebirgische Schwibbogen erzählte ursprünglich die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies. Ob man tatsächlich in ganz Altbayern und darüber hinaus im alpinen Raum bis hinunter nach Südtirol die Apfelpyramide kannte, lässt sich nicht sagen. Dort scheint mehr der heilige Nikolaus mit seinen Gaben im Vordergrund gestanden zu sein.
Die wissenschaftliche Quellenlage zum Paradeiserl ist überschaubar, mündliche Überlieferungen über das Brauchtum selbst stammen meist erst aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Holzarbeiter aus Südtirol und Österreich, die während des 1870er-Krieges zuwanderten, um den enormen Baumbruch in bayerischen Wäldern zu beseitigen, sollen das Paradeiserl mitgebracht haben.
Vermutlich liegt die Wiege des weihnachtlichen Tischschmucks aber im Bayerischen Wald, in der Gegend um Cham. Dort und im fernen München – viele Familien aus dem armen Osten der Oberpfalz suchten Ende des 19. Jahrhunderts ihr Glück und Auskommen in der Hauptstadt – spielte das weihnachtliche Dekorationsobjekt für die einfachen Leute eine große Rolle, noch bis Anfang der 1930er-Jahre. Tatsächlich ist die Nähe zum Legerl, einem typischen Adventsbrauch der Waldler, augenscheinlich. Noch vor 70 Jahren wusste man im oberen Bayerischen Wald genau um die Bedeutung der Elemente, die das Münchnerische Paradeiserl bereits verloren hatte. So standen ursprünglich in der Mitte der Pyramide Mann, Frau und Kind aus Kletzen geformt oder Teig gebacken. Die Buchs- oder Tannenzweige entlang des Bodens sind mit vier Symbolen zu verzieren – mit einer Sonne, geflochten aus Stroh, als Zeichen der Wiederkehr, sowie Äpfeln und Zelten als Zeichen des Schicksals, der Fruchtbarkeit und des Lebens.
Sich an Weihnachten das Paradies im Kleinen nach Hause holen zu können, ist eine tröstliche Sache – heute wie schon vor mehr als 150 Jahren in den weniger feinen Münchner Vorstädten.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank