Seit vielen Jahren kommt die inzwischen 87-jährige Dame aus Düren im Rheinland jedes Jahr im Herbst auf Besuch nach Passau. Leicht hat sie es nicht gehabt im Leben. Schon im Alter von acht Jahren wurde sie während des Krieges zum ersten Mal allein in einen Zug gesetzt und nach Karlsbad befördert. Kinderlandverschickung hieß das Programm, bei dem Kinder aus den deutschen Städten evakuiert wurden.
Auf dem Land waren sie zwar sicherer vor dem Bombenhagel, kannten aber niemanden und mussten sich an ständig neue Orte, Menschen und Schulen gewöhnen. „Aber wir wurden nicht gefragt, ob wir das schaffen. Es hat nur geheißen: Du musst!“ Für Gertrud steht deshalb fest: „Ich gehöre zur Generation: Du musst!“
Der dauernde Wechsel der Schulen in der Kriegszeit, die dann auch teilweise samt Dokumenten und Zeugnissen abgebrannt sind, hat es mit sich gebracht, dass sie ohne Abschlusszeugnis aus der Schule kam. Das hat ihr ganzes weiteres Leben geprägt: Kein Abschlusszeugnis, keine Ausbildung.
Gearbeitet hat sie trotzdem ein Leben lang: Erst wurden im komplett zerstörten Düren Steine aufgeschlichtet, für eine Großbäckerei hat sie Brot ausgeliefert, als Vertreterin an der Haustür Waschpulver verkauft, in der Teppichfabrik geschuftet, im Rathaus und in der Schule geputzt. Und drei Kinder hat sie groß gezogen. Sie hat sich immer gesagt: „Du musst!“
Auch als ihr ältester Sohn vor 24 Jahren an Krebs gestorben ist, hat sich die Frage nicht gestellt, ob sie das verkraften kann: „Du musst!“ Noch heute hat sie ein Bild von ihm immer im Geldbeutel dabei. „Mein größter Schicksalsschlag!“ sagt sie traurig. „Das ist das Schlimmste, wenn man sein Kind beerdigen muss.“
Heuer ist sie nun zum ersten Mal mit Rollator angereist, kämpft sich tapfer übers Kopfsteinpflaster in der Passauer Altstadt. Bewältigt mit Mühe, aber konsequent die Stufen im Passauer Oberhaus-Museum. Sie will ja noch so viel wie möglich sehen von der Welt. „Jetzt bin ich einmal dran!“ sagt sie und beißt die Zähne zusammen. Sie ist zäh. Kriegsgeneration eben: „Du musst!“ Ich habe allergrößten Respekt vor ihr.
Warum mir das jetzt durch den Kopf geht? Weil es mir immer öfter auffällt und immer mehr auf die Nerven geht, wenn sich Leute über jeden Käse furchtbar aufregen können: Weil es an der Ampel nicht schnell genug weitergeht, weil das Kind in der Probe nicht richtig benotet wurde, weil man nicht ganz pünktlich aus dem Büro gekommen ist und das Nachbarkind zu viel Lärm macht.
Wie wär‘s mal mit etwas weniger Weltuntergangs-Stimmung? Ich wünsche mir für manche Mitmenschen (und oft genug für mich selbst!) eine große Dosis von Gertruds Lebens-Einstellung und Kampfgeist. Bitte nicht gleich wegen jeder Nichtigkeit einen Aufstand machen! Das könnte auch in unserer Zeit nicht schaden. Und servus Gertrud – bis zum nächsten Jahr!
