Mich lässt das nicht mehr los: Es war ein lauer Frühsommerabend. Der Sohn hat grad mit seiner Basketballmannschaft ein Spiel gegen ein Münchner Team gewonnen und damit die letzte Chance für den Klassenerhalt gewahrt. Während er noch beim Aufräumen hilft und duscht, warte ich draußen vor der neuen schönen Dreifachhalle in Passau. Ich stehe rum, schaue, lausche.
Als leidenschaftlicher Motorradfahrer fällt mir sofort das Gespann auf dem Parkplatz auf: Eine relativ kleine Kawasaki mit einem klassischen Beiwagen, um die 30 Jahre alt. So etwas sieht man nicht alle Tage. Das Gespann ist voll bepackt. Der Fahrer hat jeden verfügbaren Platz ausgenutzt. Im Beiwagen und am Gepäckträger sind prallvolle Taschen und Tüten verzurrt. Das Kopfkino geht sofort los: Ein Reisender mit der Nase im Wind, unterwegs auf Straßen, die am Horizont verschwinden. Morgens aufstehen, losfahren, neue Landschaften „erfahren“, Menschen kennenlernen, fremde Kulturen erleben, die Freiheit spüren… Leben pur.
Während ich noch vor mich hin träume, höre ich mit einem Ohr Gesprächsfetzen eines Grüppchens am Rand des Parkplatzes. Dabei schält sich eine andere Geschichte heraus als die, die ich mir zusammengereimt habe. Mit dem Gespann ist ein Vater mit Frau und kleinem Sohn aus der Ukraine bis hierher gefahren. Einige junge Leute helfen ihnen, den Ort ausfi ndig zu machen, wo sie sich melden können und einen Platz zum Schlafen finden. Sie dolmetschen, telefonieren, geben Adressen in die Google-Suche ein. Es muss ganz in der Nähe sein, denn der Mann schnallt schließlich einige wenige Sachen vom Motorrad ab und schultert einen alten Rucksack, ehe er hinkend zu der Frau und dem Buben zurückgeht und sie miteinander in Richtung alte Halle weiterziehen. Ihre Reise hat nichts mit Urlaub, mit Freizeit, mit Freude am Lied der Straße zu tun. Ihre Reise ist eine Flucht. Ihre Reise ist das Entkommen aus Krieg, Zerstörung, Tod und Elend.
„Der Vater, die Mutter und der kleine Bub stehen für mich an diesem Abend für Millionen Menschen auf der Flucht. Sie sind mir nah gekommen, näher als durch drei Minuten in den Tagesthemen.”
Die kleine Familie ist angekommen, gerettet, geht mir durch den Kopf. Ich fi nd es klasse, dass auch gleich jemand da ist, der hilft im fremden Land. Dass es bei uns einen warmen Platz zum Schlafen gibt, Essen, Sicherheit, Zeit zum Ausruhen. Das ist gut. Der Vater, die Mutter und der kleine Bub stehen für mich an diesem Abend für Millionen Menschen auf der Flucht. Sie sind mir nah gekommen, näher als durch drei Minuten in den Tagesthemen.
Beim Heimfahren frage ich mich, ob im Vergleich dazu mein Leben nicht eine große Spielerei darstellt? Bisschen Basketball gucken, im zigfach DIN-geprüften Bürostuhl vorm Computer gutes Geld verdienen, mit dem Motorrad am Sonntagabend durch die Gegend cruisen, sich um sieben Prozent Inflation sorgen…
Aber vielleicht ist dieser Luxus auch eine Aufgabe, die Verpflichtung zu einer Solidarität, die über den Tag hinaus geht, die auch dann nicht aufhört, wenn das Elend der Überfallenen nicht mehr zur Hauptsendezeit präsent ist und die Betroffenheitskurve abflacht? Vielleicht ist es gut, wenn mich das Bild dieser kleinen Familie im alten Kawasaki-Gespann nicht loslässt.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur