Die richtigen Worte zu finden ist gar nicht so einfach, erst recht nicht, wenn sich „Lügenkünstler“ und „Lumpwürmer“ einmischen. Da kommt der 275. Geburtstag des Dichterfürsten „Johann Wolfgang von Goethe“ gerade recht, stellt unser Autor im Editorial der aktuellen Ausgabe 37-2024 fest.
Es ist noch nicht so lange her, es lief gerade die Fußball-Europameisterschaft, da gab es eine „Spielermaterial“-Debatte. Es ging darum, ob es moralisch okay sei, wenn man Fußball-Spieler, die ja immerhin auch Menschen sind, mit einem Material gleichsetzt. Ich bin ganz klar auf der Seite derjenigen, die dieses Wort-Ungetüm am liebsten in das Reich der vergessenen Vokabeln hinabstoßen würden; dies allerdings erstens aus dem ganz banalen Grund, weil lange zusammengesetzte Wörter für kurze prägnante Zeitungs-Überschriften völlig unbrauchbar sind; und zweitens, weil mir einfach nicht in den Kopf gehen will, wie etwas so Gegensätzliches, hier etwas Festes und Totes (Material) und da etwas Quirliges und Lebendiges (Spieler), in ein gemeinsames Wort passen soll.
„Ein Schauer fasst mich …“, so hätte diese Debatte vielleicht der gute alte Goethe kommentiert. Sie wissen schon, Johann Wolfgang von Goethe, ziemlich gutes „Dichtermaterial“ der Weimarer Klassik. Womöglich würde Goethe erschrecken, sähe er, was wir heutzutage so alles mit dem schönen deutschen Wortschatz treiben. An der Stelle hätte er aber noch gar nichts von gendergerechter Sprache gehört, dank der wir die Debatte im Nu um ein „Spieler*innenmaterial“ erweitern können. Außerdem wüsste Goethe nichts von Kommentarfunktionen und „(a)sozialen Medien“, dank derer wütende Zeitgenossen in der Lage sind, im Zuge einer teils lästigen und teils belustigenden, aber eigentlich harmlosen Debatte in Sekundenschnelle einen ätzenden hasserfüllten Kulturkrieg zu entfachen.
„Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt; glücklich allein ist die Seele, die liebt.”
Vielleicht können wir es ja einfach nicht besser, weil uns schlichtweg die Worte fehlen. Nur rund 4000 Worte beträgt der aktive Wortschatz der Bundesbürger im Durchschnitt, während Wissenschaftler in Goethes Werk rund 93.000 unterschiedliche Wörter identifiziert haben. Dies meldete kürzlich die KNA anlässlich des 275. Geburtstags des Dichters am 28. August. Im „Goethe-Wörterbuch“ sortieren seit 1946 Germanisten der Berlin-Brandenburgischen, der Göttinger und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften rund 3,4 Millionen Textbelege aus Goethes Gedichten, Dramen, Romanen, zahllosen Briefen, Tagebüchern, naturwissenschaftlichen Abhandlungen und amtlichen Schriften. Das Wörterbuch des Klassik-Genies soll bis 2029 abgeschlossen sein. Auch interessant: An Goethes 200. Geburtstag, am 28. August vor 75 Jahren, wurde die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ gegründet. Damals wollten Schriftsteller nach der Nazi-Diktatur dem unzensierten Wort wieder zur Geltung verhelfen; heute will die Akademie „die Entwicklung der deutschen Gegenwartssprache im öffentlichen, privaten und medialen Kontext kritisch begleiten“. Und da haben die Germanisten einiges zu tun …
… Und können dank des „Goethe Wörterbuchs“ auch mit Wortkreationen eines echten Meisters auftrumpfen …
… Auf dass auch die trägen „Dämmerfürsten“ aufwachen. Und der „zerstreute Ameiswimmelhaufen“ in der Stadt zusammenfindet. Auf dass sie gemeinsam jenen „Lügenkünstlern“ und „Lumpwürmern“, die sich in der Anonymität des Internets verstecken; jenen „garstigen Kunden und ihrer Rabentraulichkeit“, und auch den „Selbstlern“, die nur auf sich schauen, gerade heuer im Goethe-Jahr aufzeigen, dass der Mensch nicht vollkommen ist und trotzdem keinen Hass verdient hat: „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt; glücklich allein ist die Seele, die liebt.“ Wäre doch schön, wenn wir an Goethes 300. Geburtstag in 25 Jahren mit einem „Erinnerungslächeln“ auf unsere Gegenwart zurückschauen könnten …
Michael Glaß
Readkteur