Nun kann dieses Unvorhergesehene lustig sein oder bedrohlich wirken. Es kann bei der Redensart auch Ärger mitschwingen gegen den mutmaßlichen Verursacher dieses unvorhergesehenen Ereignisses. Wenn da jemand mit strengem Blick ausruft „Jetzt aber werd’s …“, dann ist Vorsicht angesagt! Oft ist aber auch Respekt dabei, weil so etwas Unvorhergesehenes ist ja doch meist unterhaltsam; und es traut sich auch nicht ein jeder, etwas Überraschendes zu tun.
Ein bisschen verdreht, ein bisschen spontan und irrational muss dieses Leben schon auch sein. Es wäre ziemlich langweilig, wenn immer alles und jeder logisch, diszipliniert und vernünftig agiert. Zu viel irrationales Verhalten ist aber auch nicht gut. Im Duden ist das Wort „irrational“ ein Nachbar vom Wort „irre“, und das ist schon mal ein versteckter Hinweis, was passiert, wenn da einer überdreht.
Im Ringen um das „richtige“ Verhalten hat sich im Brauchtum sogar eine eigene „fünfte Jahreszeit“ herausgebildet: im Fasching ist Überraschendes, gar Chaotisches extra erwünscht. Man kann jetzt darüber streiten, ob so ein Spaß auf Kommando wirklich der Sinn der Sache ist, weil eigentlich liegt es in der Natur des Irrationalen und Unvorhergesehenen, dass es sich eben nicht an Regeln und zeitliche Vorgaben hält. Aber die Faschingszeit ist eben doch eine große Wertschätzung der verrückten Natur im Menschen, die auch ihren Raum braucht. Und es passt perfekt, dass im Kirchenjahr gleich nach dem Fasching die Fastenzeit folgt, in der sich die Leute in Disziplin üben dürfen.
So weit, so gut. Nur leben wir gerade in ziemlich verrückten Zeiten. Irgendwie ist es zurzeit ständig hinten höher als vorne. Weil nämlich ständig etwas passiert, mit dem zuvor kaum jemand gerechnet hat. Weltpolitisch überschlagen sich die Ereignisse, kirchenpolitisch auch, die Gesellschaft ist in Unruhe, der Einzelne reagiert gereizt. Und sowieso will jeder Recht behalten, auch wenn er Unsinniges denkt, macht, sagt oder schreit. Auf Netflix läuft die x‑te Serie, eine verrückter als die andere. Und der Fasching, bei dem alle mal ausgeflippt sein dürften, fällt schon wieder aus.
Klar, dass unter diesen Umständen einige keine Lust auf die Fastenzeit haben. Verzichtet haben wir unter Corona schon genug, heißt es allenthalben. Das aber haben auch kirchliche Vereine und Verbände festgestellt und Fastenaktionen der anderen Art ins Leben gerufen. Wer im Internet unter „Plusfasten“ oder „umgekehrtes Fasten“ sucht, der findet jede Menge Anregungen. Nicht „Verzicht“ lautet hier das Motto, sondern: Neues ausprobieren, sich selbst und andere überraschen und dabei etwas Gutes tun. Vielleicht auch ganz bewusst Achtsamkeit üben, wie Sie dies in meiner Kindergeschichte aus der Reihe „Lea und Theo“ auf Seite 33 lesen können. Halt einfach was tun statt nur zu verzichten – damit es auch nach vorne raus mal wieder höher wird, und wir ein bisschen lebensfroher und optimistischer in die Zukunft blicken können.
Michael Glaß
Readkteur