Kennen Sie diese Symptome: Lustloses Schlurfen durch das Haus, leerer Blick, die Hand noch leicht zur Siegesfaust geballt? Wenn ja, dann hat es Sie auch erwischt: Olympia-Entzugserscheinungen.
Trotz aller Skandale dieses korrupten Haufens namens IOC, der Milliarden kassiert und die eigentlichen Helden des Sports mit Butterbroten abspeist, zieht mich dieses Spektakel alle vier Jahre in seinen Bann. Zwei Wochen lang lümmle ich jede freie Minute auf der Couch, bejuble die Sieger, heule mit den Verlierern, staune über übermenschliche Leistungen, freue mich, wie leicht und freudvoll das Leben auch sein kann.
Paris war ein fantastischer Gastgeber. Perfekt setzten die Macher der Spiele die großartige Stadt in Szene. Nicht selten mussten sich die Athleten mächtig ins Zeug legen, um die Millionen Blicke ganz auf sich zu lenken – zu spektakulär waren die Sportstätten oder die Bauten dahinter: Eiffelturm, Invalidendom, Place de la Concorde oder Grand Palais, um nur ein paar zu nennen. Wenn an solchen Orten über Triumph und Niederlage entschieden wird, wenn hier Schweiß und Tränen ineinanderfließen, wird man als Zuschauer gleichsam mitgetragen im Sog der Leidenschaft und Emotionen.
„Ich habe einfach so eine unfassbare Ruhe in dem Moment verspürt, die nicht von dieser Erde ist. Ich bin in den Ring gegangen, habe meine Hände erhoben und gesagt: Gott, das ist ein Moment, den du mir versprochen hast.”
Was den Reiz bei Olympischen Spielen auch ausmacht: Unter den rund 340 Wettbewerben sind viele faszinierende Randsportarten dabei. Wann bekommt man sonst bei uns Rugby, Feldhockey, Synchronschwimmen oder Kunstturnen zu sehen? Und dann gibt es noch diese magischen Momente, die nur so ein weltumspannendes Megaevent hervorbringen kann. Ich denke etwa an die Niederlage von Angelique Kerber im Duell mit der Chinesin Zheng Qinwen: Nach drei Stunden endete Kerbers Traum von einer olympischen Medaille und auch ihre sportliche Karriere – und sie verabschiedet sich mit Tränen in den Augen vom Publikum. Aufsehenerregend war auch die Szene, als der südkoreanische Tischtennisspieler Lim Jonghoon bei der Siegerehrung ein Selfie mit den Kontrahenten aus Nordkorea und China schoss. Nirgends sonst wäre dieser Augenblick des Lächelns und der Harmonie zwischen Akteuren verfeindeter Nationen möglich gewesen.
Einen wahrhaft olympischen Moment durfte ich freilich eine Woche vor Beginn der eigentlichen Spiele in Paris in unmittelbarer Nähe selbst miterleben. Sportart: Mountainbike-Bergrennen, Sportstätte: Dreisessel-Region, Ereignis: Tag des Sports in Neureichenau. Unser Sohn Linus war flott unterwegs, holte alles aus sich heraus, um mit einer richtig guten Zeit auf dem Gipfel anzukommen. Und dann das: ein Platten, zwei Kilometer vor dem Ziel. Aus und vorbei. Wäre da nicht ein unbeteiligter Rucksack-Radler des Wegs gekommen. Er sah das Malheur, stieg ab, gab unserem Sohn sein eigenes Rad in die Hand, schickte ihn mit ein paar aufmunternden Worten los und schob dessen Rad den Berg hinauf. Olympischer geht’s nicht. Ein paar mehr solcher Momente im Leben – und ich werd‘ über meine Entzugserscheinungen hinweg kommen. Bis Los Angeles 2028.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur