Soeben zieht er wieder unter meinem Bürofenster vorbei, der „Spaziergang gegen Impfzwang und für sofortige Beendigung der Coronamaßnahmen“. Mit Trillerpfeifen, Trommeln und Transparenten demonstrieren die Teilnehmer für Freiheit und Menschenrechte – ein Widerspruch in sich. Etwas fordern, das man gerade selbst wahrnimmt? Mit den Argumenten der „Lautsprecher“ möchte ich mich daher gar nicht befassen, wohl aber mit ihren Ängsten.
Denn neben Trotz scheint mir eine unbestimmte – und oft genug gezielt geschürte – Furcht bestimmend für den Unmut der Protestierer: Die „da oben“ oder „die anderen“, die wollen mir Böses. In der Auseinandersetzung um die wirksamsten Corona-Maßnahmen ist schleichend etwas verloren gegangen, ohne das eine demokratische Gesellschaft nicht lebensfähig ist: Vertrauen. Eine Minderheit hat sich in ihrer Wagenburg verschanzt – die kleinste Lücke könnte das eigene Verderben bedeuten.
Wir müssen neu lernen, einander zu vertrauen. Es geht nicht anders im Leben, im Kleinen wie im Großen. Erst recht nicht in einer immer komplizierter werdenden Welt. Das Leben ist eben kein langer, ruhiger Fluss. Wir brauchen Brücken, wir brauchen Anlegestellen und sichere Häfen.
„Vertrauen ist der Anfang von allem“ – so wenig die Deutsche Bank ihren Slogan von 1995 vielleicht mit Inhalt füllte, so richtig ist die Grundaussage dennoch. Wer nicht vertrauen kann, lebt in ständiger Furcht. Niemand kann aus dem Haus gehen, ohne zu vertrauen: Dass der Nachbar den Gehweg gestreut hat, dass der Busfahrer weiß, was er tut, dass der Fahrstuhl nicht runterfällt oder der Kronleuchter von der Kirchendecke.
Ja, Vertrauen fällt uns „aufgeklärten“ Menschen erst einmal schwer. Denn es bedeutet loszulassen, ein Stück Kontrolle abzugeben, nicht alles bis ins letzte Detail selbst im Griff zu haben. Aber ist das nicht auch unglaublich befreiend? Es hängt nicht alles an mir! Ich darf abgeben: Kompetenzen, Verantwortung, Entscheidungen. Das heißt ja keineswegs, den eigenen Verstand auszuschalten – wohl aber seine Begrenztheit zu akzeptieren. Gerade uns Christen müsste das leicht fallen. Glauben heißt eben nicht: wissen. Glauben heißt: vertrauen.
Der Franziskaner Cornelius Bohl geht noch weiter: „Für den Christen ergibt sich Sinn nicht aus einer Lehre, sondern aus einer Beziehung, aus der Lebensgemeinschaft mit Christus. Der ‚Sinn des Lebens‘ ist darum weniger eine Erklärung der Welt als vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft vertrauen zu dürfen“.
Der Begriff „Vertrauen“ zieht sich durch die gesamte Bibel – 86 Mal taucht er auf, unter anderem hier im Buch Jesus Sirach: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Liebe zu ihm, Vertrauen aber ist der Anfang der Bindung an ihn.“ (Sir 25,12) Kommt Ihnen das bekannt vor? Deutsche Bank? Es kommt halt darauf an, worin wir unser Vertrauen setzen. Gut angelegt – um im Finanzjargon zu bleiben – ist unser Vertrauen jedenfalls in anderen Menschen. Und besonders gut im Menschensohn.
Wolfgang Terhörst
Redaktionsleiter