Fast ein Jahr ist es her, dass mein Vater starb. Wir waren bei ihm, hielten seine Hände, weinten allein und miteinander, trösteten uns gegenseitig und taten schließlich alles, was getan werden muss an Tagen wie diesen. Er war alt geworden, „Opa Fritz“. 90 Jahre. Er hatte Leid und Not erlebt, aber auch gute Zeiten, wie so viele Frauen und Männer dieser Generation, die nach dem Krieg aus Sehnsucht und Trümmern eine bessere Zukunft schufen. Ja, er war alt geworden – und trotzdem war es unfassbar, als er aufhörte zu atmen.
Es war ein frühlingsfrischer Tag, als der große, dunkle Leichenwagen in unsere Zufahrt einbog, um ihn abzuholen. Im dicken Daimler fuhr er ein letztes Mal vorbei an den Häusern der Nachbarn, der Bank am Wegrand, der großen Linde, die winzig war bei seinem ersten Schrei. Und wir blieben zurück. Standen am Weltrand. Schauten ihm nach, als könnte ihn das halten. Und trauten uns nicht zu winken, nicht wissend, ob das sich in der Ewigkeit gehört.
Seitdem sind viele Tage, Wochen und Monate vergangen. Opa Fritz‘ kleiner Skoda steht immer noch vor seinem Haus. Über der Eingangstür in seine gute Stube verkündet eine geschnitzte Holztafel weiterhin: „Freude dem, der kommt. Friede dem, der hier verweilt. Segen dem, der weiterzieht.“ Wind, Frost und Regen haben dem Beerdigungskreuz auf seinem Grab arg zugesetzt, das kleine Foto darauf ist blass geworden. Doch immer wieder schmücken frische Gestecke und Grablichter seine letzte Ruhestätte, zeigen, dass Menschen an seinem Grab verweilen, an ihn denken, für ihn beten.
Trauern ist ein Weg mit vielen Haltestellen. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen gehört genauso dazu wie Schmerz und Wut. Der Glaube, die Hoffnung namens Himmel, macht vielleicht das bewusste Abschiednehmen, das Akzeptieren des Todes, die Gestaltung des Lebens ohne den Verstorbenen ein wenig leichter. Doch um die Auseinandersetzung mit dem Verlust kommt niemand herum.
In meinem Handy-Kalender blinkt an zwei Abenden in der Woche immer noch das Wort „Opa“ auf. In seinen letzten Lebenswochen markierte dieser wiederkehrende Eintrag die Tage, an denen ich derjenige aus unserer Großfamilie war, der sich abends um ihn kümmerte. Heute lässt mich dieser Terminhinweis einen Moment innehalten, lächelnd zu ihm aufschauen. Diesen Termin löschen? Geht gar nicht!
Und dann ist da noch Opas alte Winterjacke, die ich mir aus seinem Schrank mitgenommen habe. Ich schlüpfe frühmorgens und spätabends hinein, wenn ich die Tiere versorge. Sie ist mir viel zu groß, aber ich habe noch nie in meinem Leben eine Jacke besessen, die so wärmt. Bis tief hinein, noch weit unter die Haut. Da wo die Erinnerungen wohnen und viele Wunden heilen.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur