Lieber Martin Walser, was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, Sie hätten nur noch 24 Stunden zu leben?
Solche und ähnliche Fragen – wie diese an den berühmten Schriftsteller – werden gerne gestellt. Viele Menschen denken, dass Geld kostbar sei. Oder ihr Haus. Das alles ist kostbar, ohne Frage. Das allerkostbarste aber, das wir besitzen, ist Zeit. Sie ist das Einzige, was wir niemals ersetzen können. Der Moment, nehmen wir einfach den 25. Mai 2019 um 11.41 Uhr, ist unersetzbar. Diese Sekunde kann nicht noch einmal erlebt werden. Nein! Verstrichene Zeit ist verstrichen und nichts, was man auch unternimmt, wird daran etwas ändern.
Unsere Zeit ist halt schnell-lebiger geworden, heißt es entschuldigend. Nur kein Leerlauf. Immer unter Strom. Hat der Tag nicht noch immer 24 Stunden? Ist das Leben wirklich schneller?
Zeit, so scheint es, ist olympiaverdächtig geworden. Es gibt Radiomoderatoren, die einem in aller Herrgottsfrüh mit nicht endendem Wortschwall einreden wollen, dass sie – und nur sie – uns in den Feierabend bringen. Dabei hat der Tag doch erst gerade begonnen. Da wünschte man sich, dass jene Stelle im Matthäus-Evangelium wahr werden möge: „Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen.“
Und erst die multi-mediale Reizüberflutung. Handy und Internet, so praktisch und wichtig sie auch sein mögen – bringen sie ein Mehr an Zeit oder eher Zeit raubende Abhängigkeit? Müssen wir tatsächlich – wie der Hamster im Rad – fast pausenlos in Bewegung sein, alles mitmachen, überall dabei sein? Werden wir dadurch glücklicher, ausgeglichener, zufriedener? Oder nur rastloser?
Dann „... würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen ...“, sagte der kleine Prinz
Gewiss haben auch Sie schon solche Sätze gehört: „Ich hab‘ grad gar keine Zeit! Mir pressiert‘s! Ich muss noch schnell…“ Philosophen, Theologen und Sozialforscher legen uns ans Herz, auch Ruheplätze für die Seele zu suchen. Der Christ braucht einen Ort der Ruhe und die Begegnung mit Gott. Doch wird diese Botschaft überhaupt gehört in einer hektischen Welt, die geprägt ist von Individualismus, Aktivismus und Zerstreuung? Alle Appelle für mehr Ruhe möchte man gerne unterschreiben mit dem Zusatz: Gott gab die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.
Zeit nehmen zum Zeit haben. Glücklich, wer das verinnerlicht. Das mit der Geduld muss ja nicht gleich so verstanden werden, dass man im ersten Stock der Wohnung noch Blumen gießt, während es im Erdgeschoss lichterloh brennt.
Antoine de Saint-Exupéry fängt in der Geschichte „Der kleine Prinz und der Pillenhändler“ eine Debatte um Zeitersparnis wunderbar ein. Darin macht der Händler den Vorschlag, dass man mit Durst stillenden Pillen nicht mehr zu trinken brauche und sich dadurch dreiundfünfzig Minuten Zeit spare. „Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte“, sagte daraufhin der kleine Prinz, „würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen…“
Ach ja, bleibt noch die Antwort nachzureichen, die Martin Walser einem Herausgeber geschrieben hat, der wissen wollte, was der Schriftsteller tun würde, wenn er wüsste, dass er nur noch 24 Stunden zu leben habe:
Lieber Till Weishaupt, ich würde sagen: Diese Uhr geht falsch!