Das KZ Auschwitz im von Deutschland besetzten Polen ist zum Inbegriff für den Mord an den europäischen Juden geworden. Ein Ort beispielloser Barbarei. Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten die letzten Häftlinge. Deshalb wird an diesem Tag weltweit des Holocausts gedacht. Unser Autor des Editorials der aktuellen Ausgabe 3-2025 kommentiert, weshalb der Gedenktag gerade heute so wichtig ist.
Nach 80 Jahren sind die meisten Zeitzeugen verstummt. Sie können nichts mehr erzählen: von der Tötungsmaschinerie, den Abgründen, die sich auftun, wo das Böse jede Menschlichkeit besiegt hat. Und auch nicht von den Heldentaten Einzelner, die sich die Freiheit bewahrten, Mensch zu bleiben. Erinnert sei hier nur an Pater Maximilian Kolbe, der anstelle eines Familienvaters in den Hungerbunker ging und dort getötet wurde. Oder an die niederländische jüdische Intellektuelle Etty Hillesum, die ebenfalls in Auschwitz ermordet wurde. Sie hat noch im Auffanglager Westerbork in einem Brief ein Credo der Versöhnung für die Freunde festgehalten: „Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf […]: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen […].“
80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz fragt man sich, ob mit den Zeitzeugen nicht auch die Erinnerungen an diese Zeit bis zur Unkenntlichkeit verblassen und die Hoffnungen der tapfersten Frauen und Männer dieser Zeit verwelken. Der Vorhang, der unsere Zivilisation vom Abgrund trennt, bekommt immer mehr Risse. Nicht nur in Russland, auch in immer mehr Ländern des Westens werden rechte Populisten zum Machtfaktor. Sie reißen Gräben auf, beschwören den Aufstand der Massen, verunglimpfen Minderheiten und dreschen mit rohen Worten auf alles ein, was ihnen im Wege steht. In einer komplizierten Welt bestechen ihre Formeln der Einfachheit, ihre nostalgischen Hymnen auf eine Welt, die es so nie gegeben hat.
Nie wieder! Diese zwei Worte stehen dafür, dass es für Auschwitz kein Vergessen geben darf. Wir alle, die wir heute leben, haben keine Schuld an dem, was passiert ist, tragen aber eine ganz besondere Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht. Für alle, die das Wort „Volk“ so gern benutzen: David Ben-Gurion sprach in dem Zusammenhang von einem „Volksgewissen“ und einer „Volksverantwortung“. Diese Verantwortung zu übernehmen, ist ein Merkmal von echtem Patriotismus. Nur so wird es uns gelingen, die schönere, die bessere, die liebevollere Welt aufzubauen, von der Etty Hillesum einst am Stacheldrahtgeträumt hat.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur