Vor kurzem hat Papst Franziskus in einem Bußakt zum Auftakt der Weltsynode auf ein ebenso schwieriges wie wichtiges Thema aufmerksam gemacht: auf den Schutz vor (sexuellem) Missbrauch. Ein Thema, an dem wir alle dranbleiben müssen anstatt wegzuschalten, wie der Autor des aktuellen Editorials (der Ausgabe 42-2024) feststellt.
Vielleicht kennen Sie das: Weil gerade über etwas geredet wird, das Sie eigentlich überhaupt nicht hören und nicht wissen wollen, drücken Sie in Gedanken den Aus-Schalter der Fernbedienung oder versuchen wie beim TV-Gerät den Sender zu wechseln. Nur, dass das im wirklichen Leben nicht funktioniert. Erst recht nicht, wenn es um ein sehr ernstes Thema geht, das uns alle betrifft.
„Missbrauch“ ist so ein Thema, das ich am liebsten einfach „wegdrücken“ würde. Gerade erst hat Papst Franziskus um Vergebung wegen des Versagens der katholischen Kirche im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche gebeten – und ich hab‘ mich schon wieder beim Gedanken an die Fernbedienung erwischt.
Wobei es mir, wenn wir es schon ansprechen müssen, lieber ist, das Thema deutlich beim Namen zu nennen: Es geht um Gewalt. Um Gewalt gegen Menschen, häufig sehr junge Menschen. Das Wort „Missbrauch“ klingt für mich in diesem Zusammenhang nämlich irgendwie so, als müssten wir nur die „Gebrauchsanweisung“ finden wie man Menschen „richtig benutzt“. Dabei ist das ja genau das Problem: Dass Menschen unter Anwendung von Gewalt „benutzt“ wurden; in einem Moment, als sie sich nicht wehren konnten und/oder wehren durften. Ermöglicht wurde diese Gewalt durch den Missbrauch von Macht. Und begünstigt wurde diese Gewalt durch das systematische „Wegschalten“. Ein „Wegschalten“, das dann wiederum „Machthabern“ das systematische Vertuschen ermöglicht hat. Ein Teufelskreis. Und spätestens an dieser Stelle geht uns das Thema alle an. Spätestens an dieser Stelle müsste uns allen klar sein, dass wir dieses Thema nicht mehr ausblenden dürfen. Nie mehr.
Denn ebenso sicher wie die Annahme, dass es sexuelle Gewalt schon immer gegeben hat und immer geben wird, ist die Annahme, dass es sie überall geben kann, wo Menschen zusammen sind. Nicht nur in der Kirche, auch in Schulen, Vereinen, etc. Nur habe ich hierzulande manchmal den Eindruck, als sei die katholische Kirche aktuell die einzige Institution, die im Angesicht der Gefahr nicht „wegschaltet“, sondern dranbleibt, aufarbeitet, vorbeugt, aufmerksam macht …
Denn selbstverständlich lässt sich sexuelle Gewalt bekämpfen und die Gefahr verringern. Durch Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, dadurch, dass wir nicht wegschalten, sondern dranbleiben. Aus der Schulung zur Prävention von Missbrauch in unserem Bistum ist mir vor allem eine Lektion in Erinnerung geblieben: Dass Opfer, sofern sie überhaupt über das Erlebte sprechen konnten, durchschnittlich erst beim sechsten oder siebten Anlauf auf offene Ohren gestoßen sind. Alle anderen Personen davor haben sich weggeduckt: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf …“. Überall dort, wo Menschen „wegschalten“, wo das Sprechen über das Thema Sexualität ein Tabu ist, haben Täter ein einfaches Spiel. Umgekehrt bedeutet dies: Am sichersten leben wir in einer Gesellschaft, die offen und achtsam bleibt.
Es ist also keine Überraschung, dass „sexuelle Gewalt“ (und ihre mutmaßlich jahrhundertelange Geschichte) in der Bundesrepublik erst spät zu einem Thema wurde – erst als es möglich wurde, offen über Sexualität zu sprechen. Ebenso wenig überrascht es, dass dieses Thema längst noch nicht überall in der Welt angekommen ist. Umso wichtiger ist es, wenn Papst Franziskus aufmerksam bleibt, aufmerksam macht – und für die „Sünden“ in Räumen der Kirche öffentlich um Vergebung bittet.
Bislang waren die Opfer sexueller Gewalt die Vorreiter von Aufklärung und Prävention. Sie haben alle Unterstützung verdient. Bleiben wir dran.
Michael Glaß
Readkteur