Und trotzdem landete ich auf dieser Demo, damals, Mitte der 80er Jahre, organisiert von der Katholischen Jugend. Es war ein wenig anders, als man das aus dem Fernsehen kannte. Es gab keine Sprechchöre. Und ein paar starke Burschen an der Spitze des Zuges trugen ein großes Kreuz. Das wollten wir am Grenzübergang Philippsreut aufstellen. Je näher wir der Grenze kamen, desto leiser wurde es im Zug. Jedem war klar: Im Wald, in den Zollgebäuden, auf Wachtürmen sind Leute mit Waffen postiert. Das wogende Waldmeer, zerschnitten von einer Grenze, die man auch an den offiziellen Übergängen nur unter Repressalien überwinden konnte. Wer nicht musste, nahm das nicht auf sich. So blieben die da drüben die da drüben. Fremd. Bedrohlich.
Nach längeren Gesprächen mit den Grenzbeamten auf der deutschen Seite fand sich schließlich ein Platz, an dem wir unser Kreuz aufstellen durften: Unser Symbol für den Frieden, unser Hoffnungszeichen gegen die Raketen, die damals Europa bedrohten.
Das Kreuz ist längst verrottet. Und auch sonst ist dort heute nichts mehr, wie es damals war. Wer heute bei Philippsreut die Grenze überquert, merkt wohl nur an den schwer auszusprechenden Namen auf den Ortsschildern, dass er in einem anderen Land unterwegs ist. Nach 30 Jahren ist das für die meisten von uns völlig selbstverständlich. Zu selbstverständlich.
Zu viele haben vergessen, dass für unsere Großeltern ein Europa, in dem man friedlich zusammenlebt und freundschaftlich miteinander umgeht, unvorstellbar war. Zu viele erkennen nicht mehr, was Reisefreiheit, der freie Warenverkehr, der Euro, eine einheitliche Charta der Menschenrechte für jeden Einzelnen bedeuten. 500 Millionen Menschen sind nach Jahrhunderten der Kleinstaaterei freier als je zuvor. Sie haben die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen. Welch ein Geschenk! Und so ganz nebenbei: Jedes einzelne Land Europas wäre ohne die EU im globalen Wettbewerb völlig chancenlos.
Doch leider gehört die Sinnkrise zur DNA Europas. In unserer Wahrnehmung bleiben nur so „manch bürokratischer Slapstick“ (die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff), die Kosten, die Migranten und die Schwerfälligkeit hängen. Eine Steilvorlage für kleingeistige Vereinfacher, um zerstörerische Botschaften unters Volk zu bringen.
Und deshalb erst recht: Wem die Freiheit ein hohes Gut ist, wer den Frieden in Europa auch nachfolgenden Generationen erhalten will, wer sich ein wertebasiertes, weltoffenes Europa wünscht, der muss sich wenigstens ein klein wenig für Politik interessieren und am 26. Mai zur Wahl gehen. Es geht um unsere Heimat und um unsere Zukunft.
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Wolfgang Krinninger
Chefredakteur