Viele stürzten sich in die Arbeit – und in der Rastlosigkeit wuchsen die Träume weiter in den Himmel. Nicht eingelöste Schuldscheine der Seele. Meinen Eltern erging es da wie vielen anderen Ehepaaren: schlecht bezahlte Erwerbsarbeit, eine kleine Landwirtschaft, Kredite fast ohne Tilgung, Hausbau über viele Jahre, ein Haushalt mit vier Kindern, einem Großelternpaar, der Urgroßmutter.
In unserem Garten entstanden in dieser Zeit kleine Oasen: Zwei Bäume, ein Tisch, eine Sitzgelegenheit. Eigentlich wie geschaffen, um sich zurückzulehnen und das Erreichte zu genießen. Wenn es besonders gut werden sollte, verlegte mein Vater am Abend oder am Wochenende noch Pflastersteine drunter. Gemütliche Ruhepole zum Ratschen, Brotzeit machen, in den Himmel schauen. Wir Kinder spielten dort mit unseren Freunden, die Feriengäste nutzten sie als Grillplatz und Nachbarn ruhten sich bei einer Halben Bier aus, wenn sie in der Nähe auf einem Feld arbeiteten. Letzteres war eine der ganz wenigen Gelegenheiten, wo sich vielleicht auch mal meine Eltern dazu setzten. Viel zu selten. Es war ja immer viel zu viel zu tun. Ja, Sehnsucht ist ein mächtiger Antrieb.
All das geht mir durch den Kopf, während ich durch den hohen Schnee um den uralten Apfelbaum stapfe. Von der Last des vielen Schnees entwurzelt, liegt er da wie ein toter Riese. Nur wenige Meter entfernt steht eine morsche Bank. Die Oase mit der schönsten Aussicht. Nichts hält an diesem Flecken Erde den Blick ins Tal, wo im Sommer die Pferde grasen, weiter auf die bewaldeten Hügel im Südosten bis zum Gipfel des Friedrichsbergs. Als kleiner Indianer konnte ich ohne allzu schlechtes Gewissen behaupten, ich hätte die Rufe meiner Mutter nicht gehört, weil diese heiligen Jagdgründe weit genug von der elterlichen Ordnungsmacht entfernt waren. Als ich größer wurde, verträumte ich manche Stunde unterm Apfelbaum, dessen Stamm sich trotzig-schief in Richtung Osten stemmte. Über 100 Jahre verkündete der „krumme Hund“ weiß blühend den Frühling, spendete Schatten, diente Kühen und Pferden als Kratzbaum und lieferte im Lauf seines Lebens viele Zentner Äpfel.
In Gedanken sehe ich sie vor mir: die kleine, weise Urgroßmutter, den drahtigen Opa, den Nachbarn mit dem Herzfehler, der keuchend über den Hohlweg zu unserem Haus herauf stapft, meine Mutter mit der Sense in der Hand. Der schiefe Baum trug nicht die süßesten Äpfel, aber er war wie geschaffen, um sich anzulehnen. Um auf sein Tagwerk zu schauen, um die Gedanken schweifen zu lassen. Um die Sonne, den Wind, die Weite zu spüren. Um ganz ruhig, ganz leicht und gelassen zu werden. Vielleicht besteht das eigentliche Gerüst unseres Daseins ja aus Augenblicken wie diesen. Flüchtig und unendlich kostbar. So sparsam gesät, dass die Sehnsucht lange davon zehren kann.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur