Minuten, Stunden, Tage? Wie kurz das Leben des Buben gewesen sein mag, weiß man nicht. Vor über hundert Jahren spülte ihn, in einem Schuhkarton liegend, die Donau ans Ufer. Auf dem Friedhof der Namenlosen in Wien liegt sein Grab. Er wurde „Sepperl“ genannt, um nicht namenlos in die Ewigkeit einzugehen. Der Friedhof ist ein schaurig schöner Platz, wie es wohl wenige auf der Welt gibt.
Der eigenwillige, fast vertraute Umgang der Wiener mit dem Tod ist legendär und wird durch Liedermacher wie Georg Kreisler („Der Tod, das muss a Wiener sein“) lustvoll gepflegt. Eine regelrechte Friedhofskultur offenbart das fast sinnliche Vergnügen an der eigenen Vergänglichkeit und zeigt, dass der Tod wahrscheinlich nirgendwo besser aufgehoben ist als in Wien.
Wie großzügig man in Österreichs Hauptstadt mit dem Tod umgeht, bezeugt der Friedhof der Namenlosen. Wer hierher kommt, hat eines der bewegendsten, ungewöhnlichsten und entlegensten Besuchsziele in Wien erreicht. Er soll weltweit der einzige Totenacker sein, der den Opfern eines Flusses gewidmet ist. Der Friedhof der Namenlosen ist nicht leicht zu finden. Nur ein paar Schilder am Wegesrand weisen auf diesen Ort im Alberner Hafen hin.
„Hier habe ich schon als Kind meinem Großvater, der genauso hieß wie ich, bei der Pflege der Gräber geholfen“, erzählt Josef Fuchs (Pensionär, geboren 1960). Er und seine Frau Rositta kümmern sich ehrenamtlich um das Areal, insgesamt etwa 60 Stunden im Monat. Den Rasen mähen, den Pflanzenwuchs eindämmen, die Hecken schneiden, Laub wegräumen, Grabsteine und Kreuze reinigen, Blumenspenden arrangieren, die Auferstehungskapelle säubern – es gibt immer etwas zu tun.
Dass er sich um den Friedhof annimmt, liegt in der Familie. Sein Großvater war es schließlich auch, der den kleinen „Sepperl“ in einem angeschwemmten Schuhkarton fand und auf dem Friedhof begrub. Seit dieser Zeit – Gott sei Dank möchte man sagen – kümmert sich die Familie Fuchs um den Friedhof der Namenlosen.
Dass bei einigen Gräbern ein Name steht, ist das Verdienst von Josef Fuchs (1906−1996), dem Großvater. Als Gemeindegendarm von Albern konnte er bei dem einen oder anderen Opfer im Nachhinein die Identität klären. Ihm und seiner lebenslang ehrenamtlichen Arbeit ist es zu verdanken, dass die namenlosen Toten, die die Donau einst freigab, nicht in Vergessenheit gerieten. Noch einen Grund gibt es, warum bei manchen Gräbern der Name bekannt ist: Es gab eine Zeit, da war es mit der Barmherzigkeit der katholischen Kirche nicht weit her – Menschen, die freiwillig aus dem Leben schieden, durften nicht in geweihter Erde bestattet werden und kamen auf diesen Friedhof. Bei den wirklich „Namenlosen“ hat man die Zuversicht: Nur Gott kennt ihren Namen. Versinnbildlicht wird das in der runden Friedhofskapelle. Ein Wandgemälde zeigt den Auferstandenen im Strahlenkranz, der Umfassungsbogen zitiert eine Stelle aus der Bibel: „Wer lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,26).
Der Friedhof der Namenlosen liegt im 11. Bezirk (Simmering), an den Donauauen im Hafengebiet Albern. Das stimmungsvolle kleine Gräberfeld ist die letzte Ruhestätte für Tote, die der Fluss freigegeben hat – Opfer von Unfällen und Verbrechen. Darunter sind auch Menschen, die freiwillig aus dem Leben schieden und aus Verzweiflung in die Fluten der Donau gingen.
Zwischen mächtigen Getreidespeichern, Silos und alten Lagerhallen strecken heute Kräne ihre langen Arme in den blauen Herbsthimmel; sie werden zum Be- und Entladen von Donauschiffen gebraucht. Aus wirtschaftlicher Sicht gesehen schlägt hier der Puls des Lebens. Einen Steinwurf davon entfernt weicht die geschäftige Betriebsamkeit einer beschaulichen Ruhe. Auch hier geht es ums Leben, allerdings um Vergangenes. Beim Flusskilometer 1.918, dort, wo der Donaukanal in die Donau mündet, war die letzte Reise dieser Menschen zu Ende. Wasserstrudel fingen an dieser Stelle zwischen 1840 und 1940 neben Treibholz 580 Wasserleichen ein.
Unter hohen Bäumen laden auf dem Friedhof Bänke zur Rast und zum Nachdenken. „Die Seele lebt weiter“, heißt es in einer in Stein gemeißelten Inschrift. Welche Schicksale mögen hinter den Verzweiflungstaten der „Namenlosen“ gestanden haben? Warum kam es zum Äußersten: sich in die Donau zu stürzen? Gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen konnten, der sie von ihrem Vorhaben abzuhalten vermochte? Josef Fuchs kennt so manches Schicksal der Verstorbenen: eine ledige Dienstmagd, die sich umbrachte, weil sie schwanger war. Ein junger Mann, der sich hier am Grab seiner Mutter das Leben nahm. Drei Arbeiter aus Deutschland, die beim Hafenausbau Ende der 1930er-Jahre zu Tode kamen. Eine Überführung in die Heimat war aus finanziellen Gründen nicht möglich.
„Die Toten braucht man nicht zu fürchten, nur die Lebenden.”
Immer wieder wurde der ältere Teil des Friedhofs überflutet, die Begrabenen waren ein zweites Mal Opfer der Donau. Heute ist dieser kaum mehr zu sehen, Bäume und Sträucher haben sich den Platz zurückgeholt. Auf dem jüngeren Bereich verteilen sich 102 Gräber; er entstand ab 1900 jenseits des Schutzdammes. Von vielen weiß man weder Namen noch Todesursache. „Namenlos“ steht daher auf manchen Gräbern, „Unbekannt“ auf anderen. Die liebevoll gepflegten Grabstätten mit ihren schmiedeeisernen Kreuzen sind ein Memento mori all jener, denen der Fluss zum Verhängnis wurde. Besucher zünden Kerzen an, bringen Engel oder Teddybären mit. Mit dem Bau des Alberner Hafens veränderte sich die Strömung der Donau. Niemand wird hier mehr angeschwemmt. Der Friedhof ist geblieben, eingesäumt von Grün. Er ist im Besitz des Wiener Hafens, jederzeit frei zugänglich und steht unter Denkmalschutz.
Nicht nur Allerheiligen und Allerseelen wird der Opfer der Donau gedacht: Am Sonntag, 5. November, um 14 Uhr versammeln sich Mitglieder des Fischereivereins Albern, um ein von ihnen gebautes Floß, geschmückt mit Kränzen, Blumen und brennenden Kerzen, zu Wasser zu lassen. Auf dem Floß befindet sich ein symbolischer Grabstein mit der Inschrift „Den Opfern der Donau“ und der in den Sprachen Deutsch, Tschechisch und Ungarisch verfassten Bitte, das Floß, wenn es am Ufer hängenbleiben sollte, einfach weiter zu stoßen. Mit einer Holzzille bringen die Fischer das Floß in die Mitte des Stroms, um es den Fluten zu übergeben, zum Gedenken an die anonymen Opfer der Donau.
Josef Fuchs: „Mir wurde erzählt, dass das Floß bis ins Schwarze Meer geschwommen sein soll.“ Und er erzählt weiter… „Einmal hat eine Musikband hier Aufnahmen gemacht. Ich denke mir: Denen hier hätte das eh gefallen“ und deutet auf die Gräber. „Die Toten hier starben voller Kummer, durch Gewalt oder sie mussten qualvoll im Wasser der Donau ertrinken.“ Ob er, der den Friedhof der Namenlosen schon seit seiner Kindheit kennt, irgend etwas Ängstliches oder Gespenstisches damit verbindet? „Nein. Die Toten braucht man nicht zu fürchten, nur die Lebenden.“