
Am 28. April 1945 wurden fünf Bürger von der SS ermordet, als sie ihre Heimatstadt vor der Zerstörung durch US-Truppen retten wollten. Zwei weitere ereilte kurz darauf dasselbe Schicksal. Es ist eine Wunde, die auch nach 80 Jahren noch zu spüren ist.
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Unsere Alltagserfahrung lehrt uns allerdings, dass nur kleine Schnitte, Stiche oder Abschürfungen rasch abheilen. Sie hinterlassen meist keine Narben, schnell ist der Schmerz vergessen. Ganz anders hingegen sieht es mit großen, klaffenden Wunden aus, sie vernarben oft nur oberflächlich, ein stechend ziehender Wundschmerz bleibt, er wird chronisch. Und bei verschiedenen Gelegenheiten fühlt es sich an, als würde die alte Narbe wieder aufbrechen. Die „Altöttinger Bürgermorde“ vom 28. April 1945, ihre Vor‑, aber auch Nachgeschichte sind ein solches Trauma, wie der medizinische Fachbegriff für Verletzungen heißt. Ein Trauma, das tief in die Stadtgesellschaft eingedrungen ist und wohl bleibende Spuren hinterlassen hat, so der Eindruck des Außenstehenden, auch achtzig Jahre nach den schrecklichen Ereignissen und das der Linderung bedarf, eine Heilung mag möglicherweise unmöglich sein.
Hannes Schneider ist ein gebürtiger Burghauser, also nach Altöttinger Selbstverständnis durchaus ein Außenstehender. Seit 1983 hat der ehemalige Leiter der Polizeiinspektion Altötting seinen Lebensmittelpunkt in der Wallfahrtsstadt, seit 2019 führt der Pensionist dort Gäste und Besucher. „Ich bin nur ein Geschichtenerzähler, kein Historiker“, sagt er über sich ganz uneitel, während er im Treppenhaus der Berufsfachschule für Musik, der Max-Keller-Schule, in den zweiten Stock hinaufgeht. In Wirklichkeit ist Hannes Schneider viel mehr, er ist eine Art Therapeut für die chronische Wunde Altöttings, für die Tage um den 28. April 1945 und danach.
Akribisch, er selbst würde das sofort in Abrede stellen, beschäftigt er sich mit den Personen und Abläufen der unseligen Apriltage. „Ich bin auf diese Vorkommnisse durch meine älteste Tochter gestoßen, sie suchte nach einem Thema für ihre Facharbeit, 2000 müsste das gewesen sein, war ein reiner Zufall.“ Für Altötting war und ist es ein Glücksfall. Schneider begann aus beruflichem Interesse zu recherchieren, die Rolle seiner Altöttinger Polizeikollegen Hölzl und Mayerhofer interessierte ihn zunächst vordergründig. Seine professionelle Kenntnis, Akten, Gerichtsprotokolle und Tatortberichte lesen und verstehen zu können, kam ihm dabei zugute ebenso wie ein phänomenales Namens- und Personengedächtnis, geschult durch vier Jahrzehnte bei der Polizei. „Da schaust du nach, dann dort, da findest du wieder einen Hinweis. Dann erzählt dir wieder jemand etwas, was du in den Zusammenhang bringen kannst, und so ergibt sich dann immer mehr das größere Ganze“.
Im ehemaligen Landratsamt ist heute die Berufsfachschule für Musik untergebracht. Hannes Schneider zeigt auf das ehemalige Arbeitszimmer von Landrat Kehrer (2. + 3. Bild); auf dem 4. Bild ein Blick aus diesem Arbeitszimmer auf den Kapellplatz. Auf dem 5. Bild ein Blick auf den Platz, wo die Opfer von den SS-Schergen hingerichtet wurden.
Fotos: Roswitha Dorfner
Mittlerweile im Vorraum vor den Büros des ehemaligen Landrats in der zweiten Etage angekommen – in der heutigen Musikschule war bis zum Jahr 1961 das Landratsamt untergebracht – wird die Geschichte des 28. April 1945 sofort lebendig. Schneider geht durch die Tür des Vorzimmers. „Hier müsste der Schreibtisch von Frau Ernst, der Sekretärin von Landrat Josef Kehrer, gestanden haben“. Schneider zeigt auf die linke Seite des Raums, geht nach rechts, in Richtung Wand, wo die Durchgangstür zum Landratsbüro gewesen sein muss. Nichts lässt sie mehr erkennen. „Hier hat sich das meiste am Vormittag abgespielt, hier führte Kehrer vermutlich in der Früh die Gespräche mit den in den „FAB“-Aufstand eingeweihten Personenkreis, hier sprachen die späteren Opfer vor, um sich zu erkundigen, was überhaupt los ist. Kehrer telefonierte wohl auch von hier aus oder ließ anrufen. Die hitzigen Wortgefechte mit seinen vermeintlichen Mördern, das war ebenfalls hier“.
In den frühen Morgenstunden hatten die Aufständischen über Rundfunk die bayerische Bevölkerung zum Aufstand aufgerufen und bekannt gegeben, dass die Freiheitsaktion Bayern, die FAB, die Regierungsgewalt übernommen habe. Über achtzig Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt und vermutlich ohne genaue Kenntnis der Lage dort, begann mit einem Anruf aus dem Landratsamt beim Polizeibeamten Simon Mayerhofer um 6.45 Uhr der kürzeste und gleichzeitig längste Tag in der Geschichte Altöttings.
Landrat Kehrer ordnete die Festnahme nationalsozialistischer Funktionäre aus Alt- und Neuötting an, die in die kleine Haftzelle in der Polizeistation gegenüber dem Landratsamt gebracht wurden, mit Blick auf die Tür der Behörde und auf den schmalen Verbindungsweg zwischen Kapellplatz und Marienstraße. In Ermangelung von Wachleuten und Ordnungspersonal sollten Männer der Freiwilligen Feuerwehr bestimmte Aufgaben übernehmen, so die Idee des Landrates. Kurz nach sieben Uhr ging die Kunde über den Suizid des Altöttinger Bürgermeisters Karl Lex wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Verhaftungen der führenden Nazis riefen Offiziere aus Neuötting auf den Plan, die sie gegen 11 Uhr befreiten. Die Radiomeldungen, die bereits seit 10 Uhr vormittags über das Misslingen des FAB-Aufstands ausgestrahlt wurden, scheinen im Altöttinger Landratsamt nicht vernommen worden zu sein, wohl aber von dem Personenkreis, der politisch die Fäden des Aufstands in der Wallfahrtsstadt geknüpft haben mag. Sie flüchteten sich zu Verwandten und Bekannten ins Umland oder versteckten sich. Andere, die als Patienten in den Lazaretten im Franziskushaus und im Kreszentiaheim lagen und vermutlich als Ratgeber im Vorfeld der Aktion fungierten, blieben bis heute im Hintergrund.
Dokument eines Verbrechens: Eine mittlerweile recht verwitterte Votivtafel gegenüber der Sakristei der Gnadenkapelle zeigt links im Hintergrund die Erschießung von fünf Altöttinger Bürgern im Landratshof. Die Szene zeigt exakt den damals geschilderten Ablauf. Mit der Tafel wollte sich ein an der Freiheitsaktion Beteiligter bei der Gottesmutter für seine Errettung bedanken. Auf den Bildern 2 +3 ein Blick in die Rastkapelle in der Altöttinger Stiftspfarrkirche, in der den sieben Altöttinger NS-Opfern gedacht wird.
Fotos: Roswitha Dorfner
Die Verbindungen und die Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Städten und Gemeinden, in denen sich Personen für die Freiheitsaktion Bayern engagierten, interessieren Hannes Schneider besonders. Er sucht nach Zusammenhängen zwischen den Aktiven in der Wallfahrtsstadt, den Nachbarorten und sogar München. Bekannt ist mittlerweile, dass der amtierende Landrat Josef Kehrer ein Studienfreund von Rupprecht Gerngross, dem Kopf hinter der Freiheitsaktion Bayern, war. „Die Kisten im Stadtarchiv sichte ich, wenn mir wieder neue Erkenntnisse vorliegen“, sagt der profilierte Lokalhistoriker, als er dann im Büro Landrat Kehrers steht. Schneider sucht nach Spuren von Einschüssen in Wand und Türe. Nichts. Die Tatort-
skizze, wo Kehrer schwerverwundet lag, hat er detailliert im Kopf ebenso wie den Bericht des damaligen Stadtpfarrers Engelhardt, der den sterbenden Kommunalbeamten versah und die Aussage des behandelnden Chefarztes Dr. Schmid.
Hannes Schneider sieht aus dem Fenster, der Kapellplatz ist heute fast menschenleer. „Der Überblick über den Platz, rüber zum Rathaus und zur Neuöttinger Straße ist der gleiche wie damals. Kehrer müsste doch gesehen haben, wer da im Anmarsch ist“, sinniert er leise. Das Büro, Ort der letzten und alles für den weiteren Tagesablauf entscheidenden Augenblicke, ist heute ein Übungsraum für die Musikschüler. Johann Sebastian Bach ist der Namensgeber für den Raum, der immer noch die Doppeltür eines wichtigen Behördenzimmers besitzt. Auf Josef Kehrer, der sich nach Lesart der Nazis dort selbst erschossen haben soll, weist nichts mehr hin. Sein Grabstein steht heute noch im Abschnitt A des Städtischen Friedhofs an der Stinglhamer Straße. In Folge seiner schweren Kopfverletzungen verstarb der gebürtige Oberpfälzer am 30. April 1945, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
80. Jahrestag der Bürgermorde
Gottesdienst, Diskussion, Segnung von Mahnmal und Themenweg, Ausstellung und Friedenslichtaktion
Die Stadt Altötting gedenkt in diesem Jahr am 28. April zusammen mit der Kirche ganz besonders ihrer kurz vor Kriegsende von SS-Schergen ermordeten Mitbürger: Josef Bruckmayer, Hans Riehl, Martin Seidel, Monsignore Adalbert Vogl und Adam Wehnert sowie in den folgenden Tagen Josef Kehrer und Max Storfinger. Die Kirche hat alle sieben als Märtyrer in das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Die Stadt Altötting hat auf Initiative von Erstem Bürgermeister Stephan Antwerpen eine Erinnerungsskulptur und einen Themenweg in Auftrag gegeben, die das seit langem gepflegte stille Gedenken in der Rastkapelle der Stiftspfarrkirche fortan im öffentlichen Raum ergänzen sollen. Das Mahnmal zeigt fünf stehende Metallplatten, aus denen abstrakte Silhouetten von Menschen ausgeschnitten sind. Diese zweidimensionalen Figuren wiederum liegen am Boden vor bzw. hinter den Tafeln – dargestellt als grobe Umrisse von Personen, wie man es von Verbrechenstatorten kennt.
Das Programm im einzelnen:
- 8.30 Uhr: Gedenkgottesdienst in der Stiftspfarrkirche mit Kranzniederlegung
- 10.30−12.15 Uhr: Was wurde aus „Nie wieder!“? Diskussion zum Thema Erinnerungskultur (Kultur + Kongress Forum, Zuccalliplatz 1)
- 14 Uhr: Enthüllung und Segnung der Erinnerungsskulptur „Gegen das Vergessen“ und des Themenweges (Innenhof der Max-Keller-Schule, Kapellplatz 36)
- Ab 16 Uhr: ist die Ausstellung „München 1945“ von Sabrina Schmatz im Rathaus Altötting zu sehen. Um 19 Uhr wird die Ausstellung in Anwesenheit der Künstlerin eröffnet
- 20 Uhr: Ein Licht für Frieden und Demokratie – Friedenslichtaktion am Kapellplatz mit anschließendem ökumenischem Friedensgebet.
Die Frage nach dem Kaliber der möglichen Waffe Kehrers beschäftige den ehemaligen Polizeibeamten aktuell, erzählt er, als er auf die Rückseite des Gebäudes geht, die an die heutige Rastkapelle grenzt. Große, lichte Fenster geben den Blick frei auf die Wiese, die heute von den Schülern als Fahrradparkplatz oder als Pausenhof genutzt wird.
Die kleine unscheinbare Wiese im ehemaligen Landratsamtshof ist der historische Ort der Exekution der unbescholtenen fünf Altöttinger. Gegenüber, dort wo jetzt der Kreuzweg angelegt ist, war die Polizeistation. Die dort freigekommenen Parteifunktionäre hatten eine Liste erstellt, von allen Personen, die sie aus ihrem kleinem Arrestfenster vor dem Landratsamt beobachtet hatten: den Mühlenbesitzer Josef Bruckmayer, den geschäftsleitenden Beamten der Stadt Altötting, Martin Seidel, den Lagerhausverwalter Hans Riehl, den Kapelladministrator Monsignore Adalbert Vogl und den Buchhändler Adam Wehnert. Kreisleiter Fritz Schwaegerl erweiterte die Aufstellung zunächst telefonisch, dann persönlich vor Ort um den ehemaligen Bürgermeister Gabriel Mayer, Redakteur Heinrich Haug, Rechtsanwalt Dr. Gmach, Regierungsrat Dr. Scheupl, Verleger Dr. Hans Geiselberger und Baumeister Irpertinger. Bis zirka 14 Uhr am frühen Nachmittag hatten Altöttinger SA-Männer die ersten fünf verhaftet und im Polizeirevier inhaftiert.
„Die Votivtafel gegenüber der Sakristeitür der Gnadenkapelle muss von einem Augenzeugen stammen“, sagt Hannes Schneider als er am geöffneten Fenster der heutigen Schule steht und vom zweiten Stock in den Hof blickt. „Die Zeichnung gibt exakt das wieder, was auch Mayerhofer in seinem Bericht schreibt.“ Schneider hält inne, die Rekonstruktion der letzten Lebensstunde der Altöttinger Naziopfer liegt Hannes Schneider ganz besonders am Herzen, ist sie doch Ausdruck brachialer Menschenverachtung bis über den Tod hinaus. „Man hat die Männer von der Arrestzelle hier in den Hof getrieben, sie mussten anlaufen und wurden rücklings erschossen. Auf die Zusammengesunkenen, die noch nicht tot waren, wurden dann gezielt Schüsse abgegeben. Die Toten sollen dann von Altöttinger SA-Männern zum städtischen Leichenwagen geschleift worden sein, der bereits vorgefahren worden war und hineingeworfen worden sein.“ Schneider schließt die Fenster, erzählt beim Verlassen des sonnendurchfluteten Zimmers noch, dass auch Frauen an die Wand zur Erschießung gestellt worden seien, Ehefrauen von Männern, die sich durch ihre Flucht den Nazihäschern entzogen hatten und, so seine neueste Erkenntnis, auch die Sekretärin Kehrers, Frau Ernst.
Bis zum 28. April sind es nur mehr wenige Tage, Hannes Schneider wird unterdessen nicht müde, noch nach weiteren Bausteinen einer Geschichte zu suchen, die für die Wallfahrtsstadt und die Familien der Ermordeten eine unendliche zu sein scheint. Wer ihr folgen möchte, kann dies in einer Sonderführung am 26. und am 28. April 2025 tun.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank