Wenn jemand kein Fleisch essen will, kann ich das verstehen. Schließlich kommen fast täglich neue, hässliche Tiertransport- oder Schlachthofbilder in Umlauf. Und dass der enorme Fleischkonsum in den Industrienationen den Klimawandel beschleunigt, ist mittlerweile auch kein Geheimnis mehr.
Aber muss man gleich zum Veganer werden und auf alle tierischen Produkte verzichten? Ich geb‘s zu: Das klang für mich bisher doch sehr nach Askese und Freudlosigkeit.
Bis zu jenem Dienstagabend in Berlin. Mit Kollegen besuche ich abends ein kleines Restaurant im Zentrum. Viele junge, chice und unglaublich freundliche Menschen wuseln durch den Raum, um die kulinarischen Wünsche der Gäste zu erfüllen. FREA steht über dem Eingang. In der Küche dieses veganen Restaurants werden ausschließlich Produkte von Biobauern und anderen Lieferanten aus der Region verarbeitet. Damit nicht genug: Das Gasthaus produziert keinen Müll. Selbst die Essensreste werden in einer hauseigenen Kompostiermaschine verarbeitet und gehen als Bodenersatzstoff zurück an die Lieferanten. Und jetzt stellen Sie sich vor: Die können auch noch kochen. Ich habe hervorragend gegessen: Gemischte Vorspeisen und pikante Spagetti mit einer Maiscreme-Sauce und mit Pfifferlingen garniert. Es stimmt, was FREA als Untertitel gewählt hat: Full Taste, zero waste (auf deutsch: voller Geschmack, kein Müll).
Innerhalb von eineinhalb Stunden wurde an diesem Abend ein Vorurteil genussvoll abserviert. Es löste sich in Rauch auf. Wie schade wäre es gewesen, wenn ich mich auf dieses Experiment nicht eingelassen hätte, wenn ich an diesem Restaurant vorbeigegangen wäre, nur weil es nicht meinen (Ess-)Gewohnheiten entsprach. Es sind immer wieder Augenblicke wie dieser, die unser Leben reicher machen.
Der Soziologe Hartmut Rosa nennt das die Fähigkeit, sich von der Welt berühren zu lassen. „Wenn wir uns nicht mehr anrufen und verwandeln lassen, oder wenn wir auf die zahlreichen Stimmen da draußen nicht mehr selbstwirksam zu antworten vermögen, sind wir innerlich tot, versteinert“, sagte Rosa im „Stern“-Interview. Um diesem Weltverstummen zu entgehen, sei es wichtig, festgefahrene Haltungen immer wieder infrage zu stellen, offen zu sein für neue Erlebnisse, neue Sinneseindrücke.
Veganer werde ich deshalb nicht. Auch das erschiene mir als Beschränkung auf eine bestimmte Lebensweise. Ich werde weiterhin nicht Nein sagen zu einem schönen Stück Fleisch, von dem ich weiß, wo es herkommt. Ich werde guten Käse und erst recht die Eier unserer glücklichen Hühner genießen. Doch bei der Heimfahrt im ICE gab’s statt einer Currywurst ein Gemüsecurry mit Kokosreis. Und in Gedanken war ich bei den jungen, lustvollen Weltverbesserern aus Berlin-Mitte. Sie haben mich nachhaltig beeindruckt.
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Wolfgang Krinninger
Chefredakteur