Der Kollege in der Geflüchtetenarbeit schaut mich ratlos an. Er wirkt sehr überrascht. „Zweifel an Gottes Existenz?“, wiederholt er meine Frage, fast in Zeitlupe, und denkt nach. Er stammt aus Afghanistan, ist gläubiger Muslim. Gerade sind wir zusammen mit ein paar weiteren Kollegen im Aufenthaltsraum einer Geflüchtetenunterkunft, einen Tee oder Kaffee in der Hand.
„Michael, schau doch in den Spiegel“, setzt er nun an. „Wir Menschen sind doch ein Wunderwerk Gottes, wie können wir da an seiner Existenz zweifeln?“ Wir schauen gemeinsam in den Spiegel. Er führt meinen Finger und schwärmt: „Du hast zwei Augen, mit denen Du sehen kannst. Du hast zwei Ohren, mit denen Du hören kannst. Du hast eine Nase, mit der Du riechen kannst. Das ist ganz wunderbar geschaffen, das kann nicht aus Zufall entstehen.“
Und er legt nach: „Niemand außer einem Gott kann dies derart perfekt schaffen!“ „Und hinter deinen Augen liegt ein Gehirn“, redet er gestikulierend weiter. „Eine unglaublich perfekte Steuerungsmaschine ist unser Gehirn, Verbindung von Körper und Geist, Koordination, Gefühlen“, schwärmt er. „So perfekt kann kein Computer der Welt arbeiten!“, sagt der Kollege. Ein anderer Kollege ruft dazwischen: „Doch, jetzt kommt doch gerade die Künstliche Intelligenz auf!“ – „Ja, aber auch die hat der von Gott geschaffene Mensch erfunden und entwickelt.“ Stille im Aufenthaltsraum. Die endgültige Widerlegung meiner und unserer Zweifel?
Ich bin unsicher. Genügt mir ein Schöpfungszeugnis (das ich selbst ja ebenfalls bin) für meinen Gottesglauben? Und außerdem: Dass Gott existiert, ist das eine. Aber die Auferstehung? „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Jesus im Evangelium. Dem Apostel Thomas gelingt das nicht. Und mir selbst? Wenn ich mich nach sichtbaren Beweisen von Gottes Existenz und Jesu Auferstehung sehne, bin ich dann „Thomas 2.0“?
„Ich bin nicht besser als Thomas“, bekennt Bruder Gisbert Schütte aus dem Kapuzinerkloster in Werne an der Lippe in Nordrhein-Westfalen. Gezweifelt habe er „nicht nur einmal, sondern in vielen Phasen meines Lebens“, sagt der 84-Jährige. In jenen Phasen erschien es ihm „unbegreiflich, dass es einen Gott gibt, der die Geschicke der Menschen in seiner Hand haben soll“.
Und so manchem Mitbruder ergehe es nicht anders, sagt Bruder Gisbert, der 17 Jahre lang als Krankenhausseelsorger in Münster Kranke und Sterbende begleitet hat und auch heute noch ein gefragter Mann für geistliche Begleitung ist. „Der Apostel Thomas wird geplagt von Zweifeln, Fragen und Unsicherheiten, die ganz normal sind unter uns Menschen“, sagt er.
Allerdings kann Bruder Gisbert mit seinen Zweifeln immer wieder von seinen Mitbrüdern und anderen vertrauten Personen im Glauben überzeugt werden. „Wir sind wie Thomas und brauchen die anderen und ihren Glauben“, ist er überzeugt.
Wenn „der Thomas in mir durchkommt“, sagt Bruder Gisbert, brauche er jene Menschen, die „durch ihr Leben, ihre Worte und ihre Taten mir Hoffnung schenken und Mut machen“. Daher sei der Apostel Thomas eben nicht ungläubig, sondern ein Zweifelnder. „Das ist ein wichtiger Unterschied“, betont Bruder Gisbert.
Und noch eines macht die Sache mit Glauben und Zweifel so schwierig: Viele Menschen wissen und sprechen von Gotteserlebnissen, vom Gefühl, aus schier ausweglosen Situationen gerettet worden zu sein, ein Wunder erlebt zu haben. Und dennoch bedarf es offenbar immer weiterer Beweise, um gegen Gotteszweifel anzukämpfen. Gewissheit ist wie eine Sucht: Man braucht immer mehr davon. Aber leider: Wir können uns noch so sehr danach sehnen – Gewissheit und Glaube wird nicht dasselbe sein.
Jeden Sonntag feiern wir Auferstehung. Wir erinnern uns, dass die Gemeinschaft mit Jesus Christus stärker ist, als der Tod je sein kann. Das ist echter Glaube. „Ihn habt Ihr nicht gesehen und dennoch liebt Ihr ihn“, so drückt es der Apostel Petrus aus. Und er hat recht: Mir ist klar, dass glauben heißt, von einer Wirklichkeit auszugehen, die über unsere sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit hinausgeht, die ich eben nicht sehe. Der Apostel Thomas tut das nicht. Er glaubt nicht einmal den anderen Jüngern, seinen eigenen Mitbrüdern, dass Jesus aufgestanden und ihnen erschienen ist. Er will Jesus selbst sehen, mit eigenen Händen berühren.
Bruder Edmund Kesenheimer war jahrelang Seelsorger im Krankenhaus, bei Ordensschwestern in Süddeutschland und Missionar in Indonesien. Heute leitet der 77-Jährige das Kapuzinerkloster in Sögel im Emsland. Versteht er den Apostel Thomas und dessen Zweifel? „Spätestens als mehrere Mitbrüder im ähnlichen Alter wie ich den Orden verließen, kam mein Glaube ins Wanken. Das waren großartige Menschen und Seelsorger, ihre Zweifel waren zu groß, und auch meine Fragen an Gott wuchsen täglich“, sagt er.
Er habe damals viel an den Apostel Thomas gedacht, „und er wurde mir sympathisch. Auch ich hätte gerne ein Zeichen von Gott erfahren“, sagt er.
Im Unterschied zu Thomas konnten ihn seine Mitbrüder auffangen, erzählt er heute: „Indem sie treu ihre kapuzinische Berufung und ihre Liebe zu Jesus Christus lebten, halfen sie mir.“ Dennoch tauchen immer noch hier und da Zweifel an Gott und unseren Glauben auf, gibt Bruder Edmund preis und sagt: „Auf dieser Erde werden wir keinen endgültigen Beweis erhalten.“
Text: Br. Michael Masseo Maldacker