Die Zahl ist groß. In Deutschland soll es etwa eine halbe Milliarde Versicherungsverträge geben – sozusagen von der Wiege bis zur Bahre. In Zeiten, als es das alles noch nicht gab und es auch mit der ärztlichen Heilkunst nicht so weit her war, setzten Menschen auf den Beistand von Schutzheiligen, auf ein himmlisches Versicherungspaket.
Nicht nur gegen Feuer, Hagel, Wasser, Sturm und Tierseuchen schnürten die Menschen früher ein himmlisches Versicherungspaket. Ging es um Leib und Leben, um Krankheiten von Kopf bis Fuß, war vor allem die Apotheke des Himmels gefragt. Manchen mag das als kurios anmutendes Sammelsurium exotischer Heiliger gelten. Doch in früheren Zeiten, als das Leben bekanntermaßen bedrohlicher und das gewöhnliche Volk den Quacksalbern ausgeliefert war, war die Anrufung der Heiligen ein zentraler Bestandteil der Lebensbewältigung.
„die Apotheke des Himmels”
Man vertraute sich in seinen Ängsten und Nöten den himmlischen Mächten an, bat sie um existentielle Dinge: Schutz vor schlechtem Wetter, um eine gute Ernte oder Heilung von einer Krankheit. Letzteres war eine lebensverlängernde Maßnahme, an jeder Ecke lauerten mittelalterliche Scharlatane und Kurpfuscher.
Markus Hofer und Andreas Rudiger in ihrem Buch über „Die 14 Nothelfer“: „Sie waren Heldinnen und Helden und dienten als Vorbilder, sie boten Orientierung und machten Mut. Dass es für ihr Leben kaum historische Belege gibt, spielte keine Rolle. Im Gegenteil, die biografischen Lücken wurden mit abenteuerlichen Heldengeschichten gefüllt: Die Märtyrer überlebten Kämpfe mit Drachen, Bäder im kochenden Öl und konnten von ihren Gegnern meist nur durch Enthauptung gestoppt werden.“ Die Autoren in ihrem Fazit: „Diese Legenden sind heutigen Fantasy-Geschichten nicht unähnlich, sie punkten beim Publikum mit Nervenkitzel und einer Prise Horror. Jede Zeit hat ihre Helden. Heute sind es Sportler, Popstars oder Filmschauspieler, früher waren es eben Heilige. Je heldenhafter ihre Geschichte, desto mehr traute man ihnen zu.“
Vier „Apotheker des Himmels“ sollen in dieser Reportage kurz vorgestellt werden. Zunächst ein Besuch in der Filialkirche von Roggersing (Pfarrei Grattersdorf); dort befindet sich die heilige Apollonia, die Patronin der Zahnkranken (Gedenktag: 9. Februar). Die Gründe für Apollonias Patronat liegen auf der Hand. Man muss sich nur in die Vergangenheit zurückversetzen und sich die damalige „Zahnmedizin“ vor Augen halten. Früher gab es keine Zahnärzte im heutigen Sinn, vielmehr waren es Zahnbrecher, Schmiede und Scharlatane, die von Dorf zu Dorf zogen und auf Jahrmärkten den Leidenden die Zähne aus den Kiefern herausbrachen. Schon der Anblick der früheren Instrumente ist haarsträubend. Dabei sollte auch nicht vergessen werden, dass die gesamte Behandlung ohne irgendwelche Art von Betäubung stattfand. Die Furcht vor dem Zahnreißer war mehr als berechtigt und erklärt, weshalb die Leute lieber den Himmel um Hilfe anflehten, als sich solchen Qualen zu unterwerfen.
Namengebend wurde der heilige Vitus (Gedenktag: 15. Mai) für ein Dorf im Rottal bei Bad Birnbach – auf dem Ortsschild steht „St. Veit“. Seine Marter hat ein unbekannter Künstler auf dem Altarblatt der Filialkirche unter die Haut gehend gemalt: Tod in einem siedenden Ölkessel. Heiligenlegenden empfehlen ihn um Hilfe bei Aufregung, Hysterie, Hunde- und Schlangenbiss, gegen Krämpfe, Tollwut und Epilepsie, bettnässende Kinder, Augen- und Ohrenleiden, Unwetter, Blitz und Feuersgefahr, Unfruchtbarkeit.
Die 14 Nothelfer sind ein geschicktes Modell, das sich im Zuge der katholischen Heiligenverehrung herausgebildet hatte. Die Logik dahinter, so Volkskundler, dürfte eine einfache und bodenständige gewesen sein: „Wenn es hilft, in der Not einen Heiligen anzurufen, umso mehr muss es dann helfen, viele Heilige gleichzeitig anzurufen.“ Zu ihnen gehören der heilige Dionysius (Gedenktag: 9. Oktober) und der heilige Pantaleon (Gedenktag: 27. Juli), beide zu sehen an einem Seitenaltar der Stadtpfarrkirche von Neuötting. Und beide spielten eine große Rolle, wenn ein Mittel gegen Kopfweh gesucht wurde.
Warum das so ist, wird in der bildenden Kunst drastisch dargestellt. Dionysius trägt den abgeschlagenen Kopf auf seinen Händen, darunter die Bibel. Nach der Hinrichtung, so erzählt die Legende, soll er seinen Kopf aufgehoben und noch sechs Kilometer weit gegangen sein bis zu dem Ort, an dem er begraben sein wollte.
Und der überzeugte Christ Pantaleon soll gesagt haben: „Lieber sollen meine Hände verdorren, als dass ich sie zum Schwur der heidnischen Götter erhebe.“ An einem Olivenbaum angebunden nagelten ihm seine Peiniger deshalb beide Hände auf den Kopf. Auch wenn er heutzutage vielen wohl nichts mehr bedeutet, gilt ein Gebet noch immer: „Heiliger Pantaleon, du weißt, wie schwer es ist, krank zu sein ohne Hoffnung auf Heilung und oft ist es noch schwerer, Menschen leiden zu sehen; Menschen, die wir lieben und denen wir nicht helfen können. Erbitte den Ärzten, denen wir Vertrauen schenken, Weisheit und Geduld zur rechten Behandlung.“
Zur Wahrheit gehört auch, dass dort, wo in der modernen Medizin die Möglichkeiten der Heilung erschöpft sind, der Mensch, besonders in verzweifelten und hoffnungslosen Situationen, einstmals – wie auch heute – an die Helfer im Himmel denkt.
Der verlorene Zahn
Wie Apollonia doch noch zu ihrem Attribut kam.
Ein altes Foto im Archiv des Kunstreferates der Diözese Passau brachte den Bistumsblatt-Redakteur auf die Spur, dass in der Filialkirche Roggersing (Pfarrei Grattersdorf) sich eine Figur der heiligen Apollonia befindet – mit ihren Attributen Zahn und Beißzange. Ein Fototermin mit Mesnerin Marianne Liebl war schnell ausgemacht. Doch beim Telefonat stellte sich heraus, dass die Heilige längst keinen Zahn mehr in der Beißzange hält. In all der Zeit ist er einmal verloren gegangen. Guter Rat war gefragt. Ein Bild in der Kirchenzeitung ohne Zahn wäre nur die halbe Miete gewesen. Obwohl die Opferbereitschaft von Journalisten gelegentlich hoch ist, kam für den Mann vom Bistumsblatt nicht in Frage, sich fürs perfekte Fotomotiv selber einen Zahn ziehen zu lassen… Doch Rat und Tat sind in Roggersing daheim. Franz Liebl, Ehemann der Mesnerin und handwerklich geschickt, wusste sich zu helfen. Kurzerhand schnitzte er nach Feierabend für die heilige Apollonia einen Zahn aus Holz. Natürlich hätte er ein so makelloses Exemplar machen können, wie wir es im Fernsehen aus der Zahnpasta-Werbung kennen. Doch er hielt sich genau an die historischen Vorgaben auf dem alten Archivbild. Und so ist die heilige Apollonia von Roggersing nach kurzer Behandlung wieder zu ihrem Zahn gekommen.