Ende Mai ist Günther Jäger, der als Diakon im Pfarrverband Feichten tätig ist, nach Lesbos aufgebrochen. Doch ein Urlaub ist es nicht – er arbeitet dort zehn Wochen als Flüchtlingshelfer und blickt täglich in Abgründe der Menschheit.
Oberbuch/Lesbos. Dem 65-Jährigen war es ein Bedürfnis, an die Ränder zu gehen, wie es Papst Franziskus gefordert hat. Täglich fährt er ins Lager Kara Tepe 2 (RIC Lesvos), nahe dem Lager Moira, welches durch einen Brand zerstört worden ist. In dem provisorischen Lager leben etwa 7500 Menschen, darunter 2500 Kinder.
„Die Lage ist desaströs”
„Die Lage ist desaströs“, sagt Günther Jäger. „Die Blicke der Menschen, der Mütter, Väter und Kinder berühren mich sehr. Sie schauen uns hilfesuchend an. Doch wir können nicht allen helfen, sondern müssen uns auf die beschränken, die die Hilfe am meisten benötigen. Das sind die neu angekommenen Flüchtlinge, welche die ersten zehn Tag im abgeschlossenen Quarantänebereich untergebracht sind. Dort sind scheinbar gesunde und diejenigen mit Covid-Verdacht“, berichtet Jäger.
Täglich ist er mehrere Stunden im Camp unterwegs, je nachdem was zu tun ist. „Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge vegetiert in Zelten auf Sandboden zwischen Abwassergräben und staubigen Wegen. Alles ist eng auf eng. Der Müll und der Gestank aus den Kloaken ist teilweise grausam“, fasst er zusammen.
„Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge vegetiert in Zelten auf Sandboden zwischen Abwassergräben und staubigen Wegen. Alles ist eng auf eng. Der Müll und der Gestank aus den Kloaken ist teilweise grausam”
Die Arbeit hier stelle ihn täglich vor neue Herausforderungen. „Hier macht jeder alles. Essen vorbereiten, die Zutaten herrichten, Essensportionen in die Schalen abfüllen. Insgesamt werden bis zu 1200 Mahlzeiten für die Flüchtlinge bereitgestellt und etwa 100 Mahlzeiten für Menschen außerhalb des Camps. „Ich fahre nahezu täglich vormittags die ‚Außentour‘. Ich bin mit einem kleinen Auto durch die engen Gassen von Mytiline unterwegs, um Bedürftige außerhalb des Camps mit einer warmen Mahlzeit und sonstigen Hilfsmitteln wie Seife oder Duschgel zu versorgen.“
Für die Flüchtlinge ist die Lage nicht einfach: Über 30 Grad, die Sonne brenne, die Zelte bestünden aus Planen, unter denen die Hitze unerträglich sei. Die Wasserversorgung erfolge über große Schlauchtanks an einer Stelle des Camps und kleineren Verteilstationen für Trink- und Brauchwasser. Hunderte Dixitoiletten stünden in großen Abteilungen zusammen. In den Abschiebegefängnissen sei es eng und stickig, je nach Belegung, so berichtet Jäger.
Einkaufen sei für die Flüchtlinge kaum möglich. Ihnen stellt die griechische Regierung 70 Euro pro Monat zur Verfügung. Kinder bekommen kein Geld. – Zum Vergleich: Ein Stangenbrot kostet in Griechenland 1,20 Euro. – Im Abschiebegefängnis bekämen die Menschen noch weniger und müssten ihr Essen von ihren korrupten Bewachern erkaufen, so hat es Günther Jäger erfahren.
Im Lager auf Lesbos gibt es aber auch Lichtblicke, die dem Diakon Kraft, Zuversicht und Mut geben weiterzumachen. „Ein besonders schönes Erlebnis war es für mich, als ich einer alleinstehenden jungen Mutter mit drei Kindern einen Kinderwagen bringen konnte, den sie so dringend brauchte. Wir haben nicht viele davon in unserem Lager und gehen sehr sorgsam damit um, wie mit allen Spenden, die wir hier verwalten. Die freudestrahlenden Augen der Mutter zu sehen, war ein zu Herzen gehender Moment für mich – schon weil ich selbst bald wieder Opa werde.“
„Ein besonders schönes Erlebnis war es für mich, als ich einer alleinstehenden jungen Mutter mit drei Kindern einen Kinderwagen bringen konnte, den sie so dringend brauchte. Wir haben nicht viele davon in unserem Lager und gehen sehr sorgsam damit um, wie mit allen Spenden, die wir hier verwalten. Die freudestrahlenden Augen der Mutter zu sehen, war ein zu Herzen gehender Moment für mich – schon weil ich selbst bald wieder Opa werde.”
Vor kurzem feierten einige Afrikaner einen kleinen Gottesdienst, berichtet der Diakon. Da sei er kurz hingegangen, um das Geschehen am Rande mitzuverfolgen. „Es hat mich sehr berührt, wie intensiv gebetet, gepredigt und gesungen wurde.“
Jäger hadert damit, dass die griechisch-orthodoxe Kirche keinerlei Unterstützung für die Flüchtlinge leistet. Gerade das Gegenteil sei der Fall. „Die orthodoxe Kirche hier will die Flüchtlinge weg haben und verurteilt jede Hilfe. „Man feiert hier täglich Gottesdienste, bekreuzigt sich hundert Mal, küsst die Ikonen, betet zu Gott und ist zugleich ein großer Gegner der Flüchtlinge und deren Helfer. Wie passt denn das zusammen? Für mich hat das mit Kirche und Glauben nichts mehr zu tun. Ich kenne mittlerweile einige Einheimische, die aus diesem Grund mit ihrer Kirche hier nichts mehr zu tun haben wollen.“
„Es hat mich sehr berührt, wie intensiv gebetet, gepredigt und gesungen wurde.”
Ein weiteres schockierendes Erlebnis sei es gewesen, als er mit Kollegen nach der täglichen Arbeit nach Molyvos an die engste Stelle zwischen Lesbos und der Türkei gefahren ist. Täglich patrouillieren hier Küstenwache und Frontexschiffe samt Helikoptern mit Wärmebildkameras und Drohnen. Wenn Flüchtlinge geortet werden, werden sie oft in türkische Gewässer zurückgeschleppt, so hätten es einheimische Fischer berichtet. An einem versteckten Ort, schlecht über Feldwege zu erreichen, befindet sich eine Deponie mit Tausenden Schwimmwesten sowie zerfetzten Schlauchbooten und sonstige Schwimmhilfsmittel. Viele erreichten die vermeintliche Freiheit – viele jedoch auch nicht. Manchmal wird hier alles angezündet. Es komme ja immer wieder was dazu. „Hier zu stehen, dass muss man aushalten. Da wird man still und schluckt“, sagt Jäger. „Ganz tief in mir regt sich die Frage: ‚Warum nur, Gott, warum lässt du das zu…?‘“
„Warum nur, Gott, warum lässt du das zu…?”
Trotz allem hat es Jäger noch keine Sekunde bereut, dorthin gefahren zu sein. „Es gibt für mich keine schönere Aufgabe, als hier zusammen mit einem großartigen Team alles zu versuchen, Menschen zu helfen.“ Ein Bier mit dem Team am Abend, etwas Sport oder lange Spaziergänge, die Laudes, die Vesper und die Komplet, ein stilles Gespräch mit Gott unterwegs und das tägliche Telefonat mit seiner Frau Uschi am Abend helfen, den Kopf für den nächsten Tag frei zu bekommen, um bei dieser Arbeit am Rande der Zivilisation den Mut nicht zu verlieren.
Text: Christine Limmer