Liebe Leserinnen und Leser, in den Kirchen erklingt am Weihnachtsabend wieder aufs Neue das Lied: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Gleich zu Beginn heißt es dort: „Alles schläft, einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar.“
Immer wieder bewegt mich dieses „einsam wacht“. Ich stelle mir vor, wie es Maria und Josef wohl damals ergangen ist, als sie einsam und allein an der Krippe standen, in der ein neugeborenes Kind lag, der König der Welt.
Eine unserer größten Ängste ist die Angst vor der Einsamkeit, davor, allein und vergessen zu sein. Und wir tragen alle in uns den tiefen Wunsch, irgendwo dazu zu gehören und nicht übersehen zu werden. Dabei geht es gar nicht darum, nicht allein zu sein, denn selbst die beste Beziehung schützt nicht vor Einsamkeit.
Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass niemand so fühlt und denkt wie man selbst und keiner die Welt auf die Weise sieht wie man selbst – und dass wir im Grunde im tiefsten Inneren allein sind. Dass jeder Mensch in bestimmter Weise seinen Weg allein gehen muss. Und sehnen wir uns nicht alle danach, dass jemand uns sieht und mit uns geht?
Wir alle gehen tagtäglich unseren Tätigkeiten nach, in der Stille, ohne gesehen zu werden, geduldig und ohne Anerkennung dafür zu bekommen. Sehnen Sie sich manchmal danach, gesehen zu werden? Und fragen Sie sich, warum Sie das eigentlich noch machen?
Papst Benedikt XVI., damals noch Joseph Kardinal Ratzinger, dachte in einer Predigt des Jahres 2004 über die Einsamkeit nach: „Jesus verheißt den Geist der Wahrheit (Joh 16,13), den er dann in derselben Rede mehrmals den ‚Parakleten‘ nennt. Was heißt das? Im Lateinischen wurde dieses Wort mit ‚Consolator‘ übersetzt – der ‚Tröster‘. Ganz wörtlich bedeutet das lateinische Wort: der, der in unsere Einsamkeit hereintritt und sie teilt; der in der Einsamkeit mit uns ist, so dass sie aufhört, Einsamkeit zu sein. (…) Das Wort Consolator sagt uns: Wir sind nie ganz einsam, nie ganz von der Liebe verlassen. Gott ist durch den Heiligen Geist in unsere Einsamkeit hereingetreten und bricht sie auf. Das ist der wahre Trost – Trost nicht nur mit Worten, sondern Trost in der Kraft der Wirklichkeit.“
Maria und Josef standen an der Krippe und wachten einsam und ohne Angst, denn sie schauten auf das Kind in der Krippe, den Heiland der Welt, den durch den Heiligen Geist geschenkten Retter. Ihre Einsamkeit war keine Verlassenheit, weil sie auf die menschgewordene Liebe blickten. Auf den, der der Einzige ist, der sie in tiefster Weise erkannt hat. Und sie sieht und nie allein lassen wird.
Es gibt nichts in dieser Welt, das die tiefe Einsamkeit nimmt. Manche Dinge machen uns kurzzeitig glücklich, andere versuchen unsere Einsamkeit zu übertönen und zu verstecken. Doch es gibt einen, der die Einsamkeit nicht mehr so einsam macht, weil er in seiner Liebe zu uns kommt, als kleines Kind in der Krippe, als Heiland unter den Menschen, als Erlöser am Kreuz und als derjenige, der uns seinen Geist, den Tröster gesandt hat. Er kennt Sie im Innersten, er sieht Sie tagtäglich in Freude und Kummer, in all dem, was Sie tun, und in Ihrer Sehnsucht, von jemandem wirklich gesehen und verstanden zu werden. In der Stille. In Ihrer Einsamkeit.
Ich lade Sie ein, sich in den Tagen vor Weihnachten einmal einen Ort der Stille zu suchen – wenn auch nur für kurze Zeit – und sich bewusst zu werden, dass Sie nicht allein sind, sondern es jemanden gibt, der Sie sieht, kennt und vor allem liebt.
Und vielleicht laden Sie ihn ja auch ein, wie das Jesuskind damals in Bethlehem auch neu in Ihrem Herzen geboren zu werden. Denn er ist auch für Sie geboren worden.
Ich wünsche Ihnen allen ein segensreiches Weihnachtsfest.
Dr. Stefan Oster SDB
Bischof