Im Sport war sie nach eigenem Bekunden eine Niete. Jetzt ist Christine Thürmer die meistgewanderte Frau der Welt: 53.000 Kilometer zu Fuß, 30.000 Kilometer mit dem Rad, 6.500 Kilometer mit dem Boot. Was bei diesen Touren wichtig ist, erzählt die außergewöhnliche Frau im Gespräch mit dem Passauer Bistumsblatt.
53.000 Kilometer zu Fuß, 30.000 Kilometer mit dem Rad, 6500 Kilometer mit dem Kajak – mehr als zwei Erdumrundungen. Warum machen Sie das?
Christine Thürmer: Alleine über diese eine Frage könnte ich ein ganzes Buch füllen! Und es ist auch nicht nur ein Faktor, sondern viele Faktoren. Aber um es kurz zu machen: das Outdoorleben versenkt die Glückschwelle! Wenn Sie sich ständig auf das absolute Minimum reduzieren müssen, dann wird jedes kleine bisschen, das über diese Grundbedürfnisse hinausgeht, zum totalen Luxus und löst unwahrscheinliche Glücksgefühle aus. Für Sie ist es wahrscheinlich ganz normal, in einem Bett zu schlafen und morgens zu duschen. Ich hingegen liege fast immer auf einer dünnen Isomatte in meinem Zelt und habe maximal einmal die Woche eine Waschgelegenheit. Nach einer Woche wandern bin ich meist regelrecht paniert mit einer Schicht aus Sonnencreme, Schweiß und Dreck. Wenn ich das dann unter der Dusche endlich abspülen kann, bin ich dabei so glücklich, dass ich vor Freude laut singen könnte!
Woher kommt Ihre Energie, wo laden Sie Ihre Batterien fürs Unterwegssein auf?
Christine Thürmer: Das Langstreckenwandern zehrt mich ja nicht aus, sondern gibt mir ganz im Gegenteil genau diese Energie!
Sie haben Ihren Beruf aufgegeben, um „nur“ noch zu wandern? Was haben Sie sich dafür „eingetauscht“?
Christine Thürmer: Den letzten Anstoß zum Leben als Weitwanderin hat die Erkrankung und der Tod eines nahen Bekannten gegeben. Durch sein tragisches Schicksal wurde mir klar: die wichtigste Ressource im Leben ist nicht Geld, sondern Lebenszeit. Denn im Gegensatz zu Geld ist Lebenszeit weder planbar noch vermehrbar. Wenn ich etwas wirklich machen will, dann muss ich es jetzt tun, denn nichts und niemand kann mir garantieren, dass ich in ein paar Jahren oder womöglich bei Rentenbeginn noch dazu in der Lage sein werde. Kurzum habe ich also Zeit gegen Geld getauscht.
Wenn Sie wandern, sind Sie Tag und Nacht in Gottes freier Natur unterwegs. Welchen Moment genießen Sie am meisten?
Christine Thürmer: Der schönste Moment des Tages ist meist abends, wenn ich mich nach dem Essen auf meiner Isomatte zum Schlafen ausstrecke und den Tag noch einmal Revue passieren lasse. Dabei bin ich meist so dankbar über die vielen wunderbaren Erlebnisse, dass ich vor lauter Glück laut „Danke! Danke! Danke!“ schreien könnte.
„Unter 1000 Kilometer mache ich nix“, sagen Sie. Was muss bei solchen Unternehmungen fitter sein, der Kopf oder der Körper? Christine Thürmer: Ob man eine solche Wanderung schafft, entscheidet sich zu 80 % im Kopf und nur zu 20 % in den Füßen. Fit wird man beim Wandern automatisch, aber die richtige Einstellung sollte man schon von vornherein mitbringen.”
Mit einem schönen Urlaub haben solche Marathon-Touren wohl wenig zu tun. „Es ist ein Leben im Dreck. Man kocht im Dreck, man isst im Dreck und man schläft im Dreck“, so heißt es beispielsweise in ihrem aktuellen Buch „Weite Wege wandern“. Da räumen Sie aber mit dem Mythos vom romantischen Outdoor-Leben gehörig auf, oder…?
Christine Thürmer: Ja, und das ist auch meine Absicht! Denn die meisten Menschen brechen Wanderungen ab, weil ihre (falschen) Erwartungen nicht erfüllt wurden. Ich möchte ein realistisches Bild vom Outdoorleben zeichnen, um solche Enttäuschungen zu vermeiden.
Was gehört in den Rucksack, was sollte zuhause bleiben?
Christine Thürmer: Der entscheidende Faktor für den Erfolg an der Langstreckenwanderung ist ein möglichst niedriges Rucksackgewicht! Der gesamte Rucksack (ausgenommen Wasser und Proviant) sollte maximal 5 kg wiegen. Ein so niedriges Gewicht schafft man nur, wenn man gnadenlos reduziert. Aus Gewichtsgründen trenne ich sogar die Etiketten aus der Kleidung und säge meine Zahnbürste ab.
Noch ein paar praktische Tipps: Wie schaut’s denn mit der Verpflegung aus, wenn Sie auf Tour sind?
Christine Thürmer: Auch in diesem Punkt gibt es leider viele falsche Vorstellungen: Spezielle gefriergetrocknete Trekkingnahrung oder Energieriegel wie in der Werbung esse ich eigentlich nie. Das wäre auf Dauer erstens viel zu teuer und zweitens gibt es so etwas unterwegs einfach nicht zu kaufen. Ich muss das essen, was es in den Supermärkten und Tante-Emma-Läden am Weg gibt. Manchmal muss ich sogar in Tankstellen einkaufen, weil es sonst keine anderen Läden gibt. Und so ernähre ich mich hauptsächlich von Müsli, sehr viel Schokolade und Tütengerichten.
Und was jeder Wanderer wissen will: Was machen Sie, um an den Füßen keine Blasen zu bekommen?
Christine Thürmer: Ganz einfach: Ich laufe nie (!) in Wanderstiefeln, sondern immer in leichten Trailrunning-Schuhen. In einem robusten Wanderstiefel wird der Fuß wie in einem Korsett gezwungen, bei jedem Schritt ein und dieselbe Bewegung zu machen. Dadurch ermüdet er nicht nur schneller, sondern bekommt durch die Belastung der immer gleichen Stellen auch schnell Blasen. In Trailrunningschuhen passiert das nicht, denn die haben eine flexible Sohle.
Welchen Luxus gönnen Sie sich auf Wanderungen?
Christine Thürmer: Mein Smartphone! Beim Wandern telefoniere ich häufig mit Freunden oder höre stundenlang Podcasts und Hörbücher.
Welchen Platz hat Gott dabei, wenn Sie zwischen Himmel und Erde unterwegs sind?
Christine Thürmer: Das Wandern hat mich zu einem unwahrscheinlich glücklichen und dankbaren Menschen gemacht. Und daher danke ich Gott jeden einzelnen Tag für dieses wunderbare Leben.
… manche Menschen würden sich nicht so unbekümmert wie Sie auf den Weg machen. Alleine in der Natur zu übernachten erfordert unter anderem Mut. Wie erlangt man ihn am besten?
Christine Thürmer: Durch Erfahrung und logisches Nachdenken! In Europa gibt es keine wilden Tiere, die einem Wanderer beim Zelten gefährlich werden könnten. Und die
Gefahr, einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, ist in jeder Großstadt höher als nachts im Wald. Erstens weiß ja niemand, dass und wo ich im Wald versteckt zelte und zweitens würde sich wohl niemand bei Wind und Wetter nachts zwischen den Bäumen verstecken und warten, bis endlich ein potenzielles Opfer vorbeigewandert kommt.
Nehmen Sie von Ihren Wanderungen Souvenirs mit?
Christine Thürmer: Nein, die wären viel zu schwer und ich bin ja ultraleicht unterwegs.
„Wer sich unterwegs erst selbst finden will, hat schon verloren!“ Dieser Satz stammt von Ihnen. Wie meinen Sie das? Christine Thürmer: Viele Menschen glauben, dass man sich nur in die Natur begeben müsse und dann fällt die Erleuchtung wie Manna vom Himmel. Letztendlich ist das aber wieder nur eine Konsumhaltung, die so nicht funktioniert und nur zur Enttäuschung führt. Langstreckenwandern ist körperlich und geistig fordernd. Wer durch eine persönliche Krise bereits vorbelastet ist, wird durch diese zusätzliche Anstrengung leicht scheitern.”
PS: Christine Thürmer ist zur Zeit unterwegs. Deshalb hat sie das Passauer Bistumsblatt fürs Interview auf ihrer aktuellen Wanderung von Polen nach Finnland erreicht. Die Wegstrecke: 3500 Kilometer.