Der Krieg in der Ukraine ist für die Erwachsenen, aber auch für Kinder und Jugendliche eine Belastung und damit eine Herausforderung. Tod, Elend und Zerstörung sind damit von einem Tag auf den anderen sehr nahe gerückt und medial überall präsent. Wie sollen Eltern damit umgehen? Was können Therapeuten erreichen? Wir sprachen darüber mit Helmut Höfl, dem Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Bistum Passau.
Herr Höfl, Traumabehandlung bei Kindern ist an sich schon etwas sehr Spezielles. In Bezug auf Krieg ist die Herausforderung noch spezieller, oder?
Höfl: Der Krieg bedroht uns alle. Wir Erwachsene haben von unseren Eltern oder Großeltern noch gehört, wie existenziell fordernd, wie bedrohlich, wie gefährlich er ist. Egal ob wir das jetzt emotional besonders sichtbar oder eher verschlossen verarbeiten als Eltern und Erwachsene – Kinder spüren das. Kinder spüren, wenn wir z. B. besonders konzentriert auf Nachrichten schauen oder in der Zeitung etwas lesen und das mit dem Partner z. B. besorgt besprechen. Sie hören den Ton raus, sie spüren die Schwingungen in der Familie. Und allein schon dadurch spüren sie natürlich mit: Irgendetwas ist hier gefährlich.
Das ist die Situation, wie sie sich für unsere Kinder und die Eltern darstellt. Auf der anderen Seite gibt es jetzt auch unter den Geflüchteten viele Kinder, die den Krieg teils hautnah miterlebt haben.
Höfl: Bei den geflüchteten Kindern haben wir eine ganz spezifische Situation. Wenn man davon ausgeht, dass das Allerwichtigste für Kinder Sicherheit und Geborgenheit sind, dann kann man sich vorstellen, wie es sich auf ein Kind auswirkt, das keine Kontrolle und keine Differenzierungsmöglichkeiten mehr hat und die Welt nicht so klug oder gefasst betrachten kann wie Erwachsene. Es findet sich plötzlich wieder in einer völlig anderen Wirklichkeit, wo die Menschen anders sprechen, wo ein anderes Klima herrscht, wo vielleicht eine Umgebung da ist, die es überhaupt nicht kennt, wo es keine Spielgefährten findet. Wo die Oma fehlt oder der Papa und zugleich eine oftmals weinende, bekümmerte oder ständig in sich hineinschauende Mama da ist. Dann können wir uns vorstellen, wie es den Kindern geht: Die sind einfach nicht in der Lage, das zu begreifen. Dass plötzlich ihr Haus brennt, dass Granaten oder Bomben einschlagen. Krieg ist für die Kinderseele das zerstörerischste und giftigste, was man sich vorstellen kann.
Unterscheidet sich die Therapie von Kindern bei uns, die erstmals Krieg durch die Medien erfahren haben, und von geflüchteten Kindern?
Höfl: Da muss man vorausschicken, dass dieser Begriff „Trauma“ ein Modebegriff geworden ist. Es ist wörtlich übersetzt nichts anderes gemeint als eine seelische Verletzung, aber psychotherapeutisch definiert ist ein Psychotrauma doch etwas anderes. Es ist die Erfahrung, dass ich unter Hochstress weder fliehen noch kämpfen kann, sondern quasi in der traumatischen Zange feststecke, nicht mehr ein noch aus weiß und dann keine Chance mehr habe, das seelisch in mir zu verarbeiten. Ich befinde mich als Kind in einer ganz schwachen Stresstoleranz. Meine Seele wird, sagen wir, fragmentiert, sie zersplittert sich. Wir haben dann Teile in uns, an die wir uns über den Geruch, das Gehör oder über sensuelle Aspekte erinnern, aber wir können sie nicht mehr zusammenbringen. Kinder erleben dann schreckliche Albträume, das versetzt sie in Angst und Schrecken. Das ist in etwa Psychotrauma.
Da gibt es vermutlich mehrere Abstufungen oder Unterscheidungen?
Höfl: Nicht jedes Kind, auch nicht jedes Kriegskind, kommt mit einem Psychotrauma bei uns an. Es kommt zunächst mit einer erheblichen psychischen Belastung – und auch deshalb braucht es uns. Und zwar nicht nur die Fachdienste, sondern viele helfende Hände, die diesen ausgesetzten Wesen, diesen kleinen hilflosen Menschenkindern einfach so etwas sind wie ein sicherer Hafen, wie eine bergende Höhle, wie ein geschützter Ort, an dem sie sagen können: Da kann ich ein bisschen loslassen, da kann ich ein bisschen durchatmen und entspannen, weil da jemand da ist, der mir seinen Teddy geschenkt hat oder ein kleines Stück Schokolade oder einen warmen Tee. Allein so beginnt schon quasi die Vorstufe der psychotraumatischen Behandlung, indem wir sichere Orte schaffen.
Zunächst ist für die Kinder, aber auch die Erwachsenen besonders wichtig, dass sie sich in Sicherheit fühlen, dass diese unmittelbare örtliche Bedrohung nicht mehr gegeben ist, oder?
Höfl: Diese Menschen brauchen über seelisch feinfühlige Kontakte immer wieder das Gefühl, da gibt es Menschen, die können sich emphatisch einfühlen, die spüren ungefähr so wie ich spüre, die wissen auf meine Bedürfnisse eine Antwort zu geben – und dann beruhigt sich langsam die Seele. Wenn die Eltern und Angehörigen der geflüchteten Kinder dann merken, dass schlichtweg keine Ruhe einkehrt, dass die Kinder übererregt sind, dass sie ständig um sich blicken und die Umgebung abscannen, ob da vielleicht eine Gefahr ist, dass sie nicht mehr konzentriert spielen oder reden können, dass sie enorm schreckhaft werden, dass sie in der Nacht nicht durchschlafen können, Monster sehen, vielleicht sogar das Einnässen beginnen oder im schlimmsten Fall verstummen, dann haben wir es mit den Symptomen eines Psychotraumas zu tun.
„Letztlich ist auch Traumatherapie eine Haltung, die aus dem tiefen Glauben kommt, dass wir es überleben. Dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Und da kommen dann Glaube und reale psychotherapeutische Haltung oder Kunst zusammen.”
Wie gehen Sie dann vor?
Höfl: Das Allerwichtigste in der Psychotraumatologie ist zunächst Stabilisierung, Stabilisierung, Stabilisierung. Wie versuche ich denn das selber unter Hochstress zu erreichen? Was hilft mir bei der Selbstberuhigung? Ich brauche in der Regel neben dem sicheren Ort ein Du, eine Person, der ich vertrauen kann, der ich ganz so, wie ich bin, mein Leid erzählen, mein Leid klagen kann.
Man muss also zunächst Vertrauen aufbauen…
Höfl: Genau. In diese Position muss sich jetzt ein Psychotherapeut oder ein Begleiter einfühlen. Es geht einfach damit los, dass wir neben der Stabilisierung, die Sicherheit gibt, beginnen, die Erzählungen der Kinder zu spiegeln. Damit versuchen wir ihm zu zeigen: Du, ich verstehe dich und glaube dir. Auf diese Weise entsteht immer mehr Sicherheit. Wenn wir nach vielen Stabilisierungsübungen sehen können, dass die Kinder oder auch die Erwachsenen so weit sind, dass sie sich mit dem Trauma näher beschäftigen können, dann beginnen wir, innere Anker zu setzen, die sehr viel Selbstwert zusprechen, die ihnen immer wieder helfen zu sagen: Ich habe es überlebt, ich bin in Ordnung, ich bin eine starke, eine überlebende, eine kompetente Persönlichkeit und so weiter.
Das ist also die Annährung, der erste Schritt, bevor es überhaupt um das Trauma als solches geht…
Höfl: Dann beginnen wir sehr langsam und Schritt für Schritt auf eine besonders behutsame Weise, mit den Kindern so zu tun, als würden wir dieses traumatische Ereignis wie in einem Film betrachten. Wir haben eine Art imaginäre Fernsteuerung in der Hand. Wir beginnen, den Film langsam anlaufen zu lassen, dann kommen wieder die stabilisierenden Sätze dazwischen und dann nähern wir uns langsam diesem Geschehen. Und immer wieder die Absicherung dazwischen. Und so tasten wir uns an das langsam heran. Und wenn wir sehen, dass es tatsächlich übertragen werden kann, dann gehen wir durch das Ereignis nochmal hindurch und lassen das Kind oder den Erwachsenen spüren, Ich habe es überlebt. Du bist jetzt nicht mehr in der Situation. Du bist hier am sicheren Ort. Hier ist es gut. Und so versuchen wir, das Ereignis von damals vom hier und jetzt zu trennen.
Ich kann mir vorstellen, das ist auch für den Therapeuten nicht leicht. Vor allem ist das ja alles sehr zeitintensiv und auch emotional fordernd…
Höfl: Es ist wirklich eine herausfordernde und persönlich mächtig belastende Arbeit, weil man auch selber häufig nur Ohnmacht spürt. Aber natürlich haben wir auch gewisse Fertigkeiten und Fähigkeiten, damit umzugehen.
Das Gespräch, Offenheit und Ehrlichkeit sind immer ein wichtiger Zugang, oder?
Höfl: Es klingt vielleicht ein bisschen banal oder einfach. Aber ich muss sagen, was uns in der Bewältigung von Ängsten und düsteren Zukünften am besten unterstützt und entlastet, ist, über unsere Gefühle zu reden. Wenn ich in der Lage bin, über innere Bedrängnis zu sprechen und stehe dazu, komme ich als Erwachsener in Distanz. Dann entsteht im Reden eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit. Letztlich ist auch Traumatherapie eine Haltung, die aus dem tiefen Glauben kommt, dass wir es überleben. Dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Und da kommen dann Glaube und reale psychotherapeutische Haltung oder Kunst zusammen. Und das leisten wir als kirchliche Einrichtung, als psychologischer Fachdienst dieser Seelsorge in unserem Bistum. Und insofern dürfen wir auch wirklich Danke sagen, unserem Bischof, aber vor allem den Kirchensteuerzahlern, dass die unsere Arbeit finanzieren und tragen und dass sie uns das Vertrauen schenken, dass wir das, so gut es geht, doch einigermaßen gut können. Dafür haben sie teure Ausbildungen bezahlt und uns einen guten Arbeitsplatz gegeben. Und insofern meine ich, dass auch diese gegenwärtig mächtig in der Kritik und Krise steckende Kirche in so einer Situation tiefe, wertvolle Ressourcen hat, die ich nicht missen möchte.
Interview: Thomas König / Mitarbeit: Luisa Deiner