Auch wenn Bomben vom Himmel fallen: Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge lässt in seinem Bemühen nicht nach, gefallene deutsche Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zu bergen, auf Friedhöfen würdig beizusetzen, ihre Gräber zu pflegen – und damit Friedensarbeit zu leisten.
So wurden 2022 in der Russischen Föderation 5.839 Tote geborgen, in der Ukraine 1.475. Da es sich beim Volksbund-Präsidenten Wolfgang Schneiderhan um den früheren Generalinspekteur der Bundeswehr handelt, hat dieser im Interview mit dem Passauer Bistumsblatt auch etwas über Putins Angriffskrieg zu sagen …
Russlands Angriff auf die Ukraine hat alles verändert. Der Krieg steht nicht nur im Geschichtsbuch, wir sehen ihn jeden Tag in der Tagesschau. Was bedeutet der verlorene Frieden in Europa für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in der täglichen Arbeit?
Wolfgang Schneiderhan: Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren fassungslos. Sicher hatten wir gespürt, dass das Klima zwischen Russland und der Bundesrepublik auf politischer Ebene kühler und frostiger wurde. Aber dieser Krieg, diese Brutalität, die sich auch gegen die Zivilbevölkerung richtet, die hatte ich mir nicht vorstellen können.
Jahrzehntelange Versöhnungsarbeit, das war und ist manchmal sehr mühsam, kleinteilig, langwierig und anstrengend. Aber wir haben in ganz Osteuropa und gerade auch in Russland viele ermutigende Erlebnisse gehabt. Sie dürfen nicht vergessen, dass uns die Russen die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Sie haben mit dem Abschluss des Kriegsgräberabkommens vor dreißig Jahren erlaubt, dass die Soldaten, die ihr Land überfallen hatten, in ihrer Erde die letzte Ruhe finden. Ich durfte auf unseren Friedhöfen auch immer wieder erleben, wie freundlich die russischen Gastgeber uns und gerade auch den Angehörigen begegnet sind.
Deshalb bin ich froh, dass so viele Kolleginnen und Kollegen im Volksbund sich entschieden haben, zu sagen: Jetzt erst recht! Unsere Friedensarbeit, unsere Mühen dürfen nicht vergebens gewesen sein.
…und wie schaut das vor Ort aus?
Wolfgang Schneiderhan: Der Volksbund arbeitet – bis auf die vier Friedhöfe im Osten, wo gekämpft wird – in der Ukraine und in der Russischen Föderation. Die Kriegsgräberstätten werden gepflegt, das sind wir den Angehörigen schuldig. Dort, wo wir Genehmigungen erhalten und es nicht zu gefährlich ist, exhumieren wir auch. Die Würde der Toten ist wichtig, aber noch wichtiger ist die Sicherheit und Gesundheit der Lebenden, unserer Mitarbeiter. Im letzten Jahr haben wir in der Russischen Föderation 5.839 Tote bergen können, in der Ukraine 1.475 Tote.
Der Volksbund betreut über 830 Kriegsgräberstätten in 46 Ländern. Das schafft er vor allem auch mit einheimischen Kräften. Man spricht deshalb von der Volksbund-Familie. Wie geht es Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Ukraine? Welche Initiativen hat der Volksbund unternommen, um Menschen vor Ort zu helfen?
Wolfgang Schneiderhan: Die Volksbund-Familie hält zusammen. Die ukrainischen Mitarbeiter sind an der Front. Wir haben, so rasch es ging, ihren Familien geholfen. Einige konnten wir abholen und hierher in Sicherheit bringen, andere haben wir mit Hilfslieferungen unterstützt. Durch die Kontakte in die Ukraine wussten wir, was dringend nötig ist und wo wir es hinbringen können. Das ging von Generatoren über warme Winterkleidung, Medikamente, Hygieneartikel, Spielsachen für Kinder und Babynahrung bis zum Inventar einer Arztpraxis, die kurz zuvor aufgelöst worden war. Die Kolleginnen und Kollegen sind rührig und aktiv, auch jetzt noch.
Sind auf deutschen Soldatenfriedhöfen in der Ukraine, von denen es 24 gibt, Raketen eingeschlagen?
Wolfgang Schneiderhan: Nein, bis zum aktuellen Zeitpunkt sind keine schwerwiegenden Schäden bekannt. Auf dem Friedhof in Saporischschja wurde ein Baum beschädigt, auf dem Friedhof in Kiew zwei Bäume.
Besteht die Gefahr, dass dort in der Nähe Blindgänger oder Minen liegen?
Wolfgang Schneiderhan: Den Friedhof in Charkiw ließen wir vor Aufnahme von Pflegearbeiten auf Blindgänger und Minen untersuchen.
Die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkrieges wird naturgemäß weniger. Man sieht das auch an der Teilnahme bei den Volkstrauertagen. Wo setzen Sie an, damit aus dem Erinnern kein Vergessen wird?
Wolfgang Schneiderhan: Das Gedenken muss zeitgemäß sein. In unseren Workcamps gestalten dies die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch Gedenkveranstaltungen am Volkstrauertag übernehmen häufig jüngere Leute. In Plötzensee in Berlin wird schon seit einigen Jahren das Gedenken von Schülerinnen und Schülern zusammen mit dem Jugendarbeitskreis in Berlin gestaltet. Sie setzen sich mit dem Thema auseinander, schreiben selbst Texte oder Gedichte dazu, die sie vortragen.
Im letzten November, am Volkstrauertag, haben wir junge Menschen zwischen 17 und 25 gefragt, wie der Volkstrauertag aussehen soll: Da gab es ganz unterschiedliche Antworten: Die einen sagten: „Bloß kein Festival, es ist doch ein Gedenktag!“ Anderen war es ganz wichtig, nicht nur etwas vorzulesen, sondern selbst inhaltliche Beiträge zu bringen. Bei der Planung einer Gedenkveranstaltung in Brandenburg wollten die Jugendlichen keine Kränze, sondern lieber einzelne Blumen auf die Gräber legen, um der Toten zu gedenken. Das mag ein Detail sein, aber trotzdem war es ihnen wichtig.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge befasst sich ja nicht „nur“, wie es der Name sagt, mit der Vergangenheit, sondern fördert einen intensiven Austausch auch zwischen jungen Russen und Ukrainern. Liegen solche internationalen Begegnungen jetzt auf Eis?
Wolfgang Schneiderhan: Die Sicherheit der Jugendlichen hat höchste Priorität. Deshalb gibt es zurzeit weder in der Ukraine noch in der Russischen Föderation Jugendbegegnungen. Aus der Russischen Föderation haben sich seit Kriegsbeginn auch keine Jugendlichen angemeldet. Im letzten Sommer trafen allerdings in einem Workcamp in München zwei junge Ukrainerinnen und eine russische Teilnehmerin, die schon länger in der Bundesrepublik studiert, zusammen. Was mir erzählt wurde, fand ich anrührend: Die drei Teilnehmerinnen gingen sehr behutsam, sehr freundlich miteinander um. Sie machten gewissermaßen „Ferien vom Krieg“. So ähnlich haben sie es auch selbst ausgedrückt.
Deutsch-russische Beziehungen wurden auf vielen Ebenen gekappt. Auf der anderen Seite ist der Volksbund seinem Motto „Versöhnung über den Gräbern“ verpflichtet. Ein Drahtseilakt?
Wolfgang Schneiderhan: Wenn dieser Krieg zu Ende geht – und er wird hoffentlich mit einem gerechten Frieden zu Ende gehen – dann können wir versuchen, mit der Versöhnungsarbeit zu beginnen. Zu einem gerechten Frieden gehört für mein Empfinden Sicherheit, Freiheit und die Wahrung der Menschenrechte. Sonst kann er nicht gelingen. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Weg zur Versöhnung auf einer Kriegsgräberstätte beginnt. Eine junge Kollegin, die internationale Begegnungen in und mit Russland organisierte, sagte: „Wir müssen erst wieder Kommunikation lernen. Es war vorher schon nicht immer leicht und es wird jetzt noch schwieriger sein. Aber wir müssen damit beginnen, zu reden und uns gegenseitig zu glauben.“
Die Arbeit des Volksbundes wird – auch ohne Krieg – von Jahr zu Jahr schwieriger: So manche russische Großmutter konnte den Umbettern wertvolle Hinweise geben, wo während des Krieges deutsche Soldaten notdürftig unter die Erde gebracht wurden. Diese Generation stirbt weg. Zudem gibt es Raubgräber, die mit leistungsfähigen Metallsonden unterwegs sind, Erkennungsmarken zu Geld machen und so Soldaten ihre Identität nehmen. Wie lange wird der Volksbund noch seinen Anspruch aufrechterhalten können, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Grab hat…?
Wolfgang Schneiderhan: An diesem Anspruch halten wir fest. Er gehört zu unserer Zivilisationsgeschichte. Aber wir wissen, dass wir nicht mehr alle der unzähligen Toten und Vermissten bergen können. Wir haben über 1,3 Millionen Tote mit Grablagemeldung, das heißt, wir wissen, wo sie liegen. Wir rechnen mit einer knappen Million Toten auf Kriegsgefangenenfriedhöfen – und es gibt Hunderttausende, die verschwunden sind. Die Zahlen sind unfassbar.
Trotzdem – wir erleben aber auch Unterstützung von Menschen in Russland. Ende Dezember meldete sich ein Mann aus der Nähe von Wolgograd, der bei Leitungsarbeiten Gebeine entdeckt hatte. Er informierte den Volksbund und die Ortsgruppe konnte die sterblichen Überreste von 35 Wehrmachtssoldaten bergen.
Die Versöhnungsarbeit des Volksbundes hat bei vielen friedliebenden Menschen in Russland tiefe Wurzeln geschlagen. Wird diese Freundschaft den Krieg überleben?
Wolfgang Schneiderhan: Ich wünsche es mir.
Vor 80 Jahren rief Propagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast mit sich überschlagendem Stimmengedröhn zum „totalen Krieg“ auf. Sie sind der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Welche Botschaft haben Sie an Kriegsverherrlicher von gestern und heute?
Wolfgang Schneiderhan: Es beginnt mit Hass und Hetze, wird zu Gewalt und Krieg und endet schließlich auf den Soldatenfriedhöfen. Diese Botschaft sollte bekannt sein: Die Kriegsgräberstätten sind die großen Prediger des Friedens – sagte Albert Schweitzer. Dem kann man nichts mehr hinzufügen.
Herr Schneiderhan, Sie zitieren auch den Philosophen Karl Jaspers: „Die Hoffnungslosigkeit ist die vorweggenommene Niederlage.“ Was macht Ihnen Mut, dass der russische Angriffskrieg dorthin zurückkehrt, wo er hingehört – in die Geschichtsbücher?
Wolfgang Schneiderhan: Wir müssen mutig sein, denn Frieden braucht viel Mut. Was wir in Europa im Augenblick erleben – mit wenigen Abstrichen – macht mir Mut. Man hat verstanden, dass wir gemeinsam eine Herausforderung bewältigen müssen, dass es nötig ist, die Eifersüchteleien und das Kleinkarierte wegzudrücken und das Große, die Konstanten des Verbindenden zu sehen. Und dass man dafür auch Opfer bringen will, bereit ist, mutig heranzugehen und zu sagen: Das muss sein. Wir können diesem Aggressor nicht erlauben, dass er in der strahlenden Sonne stehen bleibt. Wir müssen die Schatten aufzeigen, zeigen, dass das nicht die Welt ist, die wir gemeinsam wollen. Mir macht sehr viel Mut, was wir erleben – im Inneren, aber auch im Zusammenhalt in Europa.