Genau 438.323 Pilger durften sich im Laufe des vergangenen Jahres im Pilgerbüro von Santiago de Compostela ihre Pilgerurkunde abholen. Vorausgesetzt, sie konnten mit der Stempelfolge im Pilgerausweis belegen, mindestens die finalen 100 Kilometer bis zur Apostelstadt zu Fuß beziehungsweise die letzten 200 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt zu haben. Niemals sind nachweislich mehr Ankömmlinge verzeichnet worden; der bisherige Rekord von 2019 (347.578) wurde um Längen übertroffen.
Für einen Experten wie Heino von Groote, den Vorsitzenden des Paderborner Freundeskreises der Jakobuspilger, war das Rekordjahr keine Überraschung. „Aber es fand meines Erachtens überwiegend auf den letzten 100 Kilometern des Weges statt“, räumt er ein. Generell scheinen sich mehr und mehr die Verhältnisse zu verschieben: weg vom Grundgedanken des Glaubens hin zum Lifestyle-Pilgern. „Unter den Europäern ist der Trend sicher da, dass man mal in Santiago gewesen sein muss“, hat von Groote ausgemacht, wobei er keine Einschätzung für Nichteuropäer wie die zunehmende Zahl an Südkoreanern treffen will.
„Hier ist es fast so geil wie am Ballermann. Nur der Strand und das Meer fehlen“, zitierte die Deutsche Presse-Agentur in einem Bericht einen 21-jährigen Pilger aus Hamburg, der sich in Santiago de Compostela gerade den Trinkfreuden hingab. Doch das geht vereinzelt auch andernorts. In Foncebadón, dem letzten Pilgerdorf vor dem Eisenkreuz, dem höchsten Punkt des Jakobswegs, dringen aus einer Kneipe poppige Klänge und rauben dem Jakobsweg die Stille. Ein Werbeschild preist einen Mojito-Cocktail für fünf Euro an, ein anderes die „Happy Hour“ mit preisreduzierten Drinks. Draußen sitzen junge Pilger zusammen und genehmigen sich einen Tropfen. Die Füße wippen im Takt.
In Santiago de Compostela häufen sich die Anwohnerbeschwerden über jene, die zur frühesten Morgenstunde jubilierend und ohne Rücksicht auf Lärmbelästigung in die Altstadt einziehen – und ihren Triumph der Ankunft in die Nacht hinein ausgiebig begießen. Dabei handelt es sich oftmals um „Urkundenjäger“, deren Fußpilgerschaft sich lediglich auf die letzten 100 Kilometer beschränkt, wie von Heino von Groote richtig ausgemacht.
In die sozialen Medien haben Anwohner Videos von grölenden Pilgermassen gestellt, Zeitungen und Fernsehsender über die Problematik der Überflutung berichtet. „Die vertreiben uns aus unserer Stadt“, ließ ein Anwohner seinem Frust im Sommer freien Lauf.
Juli und August waren einmal mehr die stärksten Monate; im Juli trafen 67.374, im August 85.842 Pilger in Santiago de Compostela ein, im Schnitt also 2500 Menschen pro Tag. Dazu gesellten sich die normalen Besucher, übers ganze Jahr verteilt mehrere Millionen. Logisch also, dass die Stadt, die nur 100.000 Einwohner zählt, an die Grenze ihrer Kapazitäten stößt.
Was bei einer detaillierteren Betrachtung der Pilgerstatistik ebenfalls auffällt: Die Frauen waren in den wichtigsten Monaten zwischen Mai und Oktober in der Mehrzahl. Der Jakobsweg gilt als sichere Route. Der Raubmord an einer Pilgerin vor Jahren bei Astorga war eine tragische Ausnahme.
Der Anteil der Radpilgerschaften hat im Rekordjahr bei etwa fünf Prozent gelegen, doch da gibt es ein ungeklärtes Problem: Haben auch E‑Biker ein Recht auf die Pilgerurkunde? „Eigentlich nicht. Die bekommt man eigentlich nur mit einem normalen Fahrrad“, lautet die Auskunft beim Anruf im Pilgerbüro. Doch in der Praxis wird das gewöhnlich nicht kontrolliert.
Im Anreiz der Fußpilgerurkunde für die letzten 100 Kilometer sieht José Miguel Rey Beaumont, der Vorsitzende der Jakobswegfreunde der spanischen Region Navarra, ein hausgemachtes Problem, das den Bestimmungen des Klerus von Santiago de Compostela geschuldet ist. „Turigrinos“ nennt er auf Spanisch die Lifestyle-Pilger, ein Wortmix aus „Turistas“ (deutsch: Touristen) und „Peregrinos“ (Pilgern). „Touristenpilger“ also – und dies in steigender Zahl. „Manche kommen sogar mit Koffern und beauftragen einen organisierten Gepäcktransport von Unterkunft zu Unterkunft“, weiß Rey Beaumont. Die Nachfrage beim führenden spanischen Gepäcktransportunternehmen „Jacotrans“ ist aufschlussreich. Transporteur José Luis Pardo hat im abgelaufenen Rekordjahr keine „explodierende“ Nachfrage ausgemacht und sagt, die Zahlen hätten sich im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit lediglich leicht gesteigert. „Aber mehr geht nicht. Unsere Anlieferungen sind mit Unterkünften verbunden – und die sind alle voll“, schließt er ein Steigerungspotenzial aus.
Rey Beaumont plädiert dafür, die Voraussetzungen für den Erhalt der Pilgerurkunde zu ändern: nicht mehr lediglich die letzten 100 Kilometer zu Fuß, sondern den kompletten Jakobsweg durch Nordspanien, knapp 800 Kilometer von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela. Ihn stört, dass die zwischendrin gelegenen Großregionen Navarra, La Rioja und Kastilien-León kaum etwas vom großen Pilgerkuchen abbekommen. Dort sei von dem, was er treffend „Massenbewegung der Pilger“ nennt, wenig zu spüren. In den drei genannten Regionen seien die Zahlen des Zulaufs in diesem Rekordjahr im Vergleich zu den normalen Zeiten vor der Corona-Krise sogar gesunken. Alles konzentriere sich auf den letzten Abschnitt in der Region Galicien, deren Hauptstadt Santiago de Compostela ist.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer ruhigere Fleckchen liebt und die wahre Aura des Weges in sich aufnehmen will, findet vorher seine Erfüllung – wenngleich ohne Diplom. Für dessen Erhalt braucht man für die letzten 100 Kilometer bis Santiago de Compostela im Schnitt fünf Wandertage; Einstiegspunkt ist das Städtchen Sarria. Rey Beaumont spart nicht an Kritik und zieht einen prägnanten Vergleich: „Das ist so, wie eine Woche Ferien zu verbringen, aber es hat nichts mit der Essenz des Jakobswegs zu tun und erreicht niemals dessen ureigene Spiritualität.“ Er prangert die „Banalisierung“ der Pilgererfahrungen an.
Was den christlichen Ansatz der Wallfahrt anbelangt, gibt Heino von Groote zu bedenken: „Den Glaubenspilger des Mittelalters gibt es ja sowieso nicht mehr. Es gibt aber eine Menge von Menschen, die mal schauen wollen, was auf dem Weg mit ihnen passiert. Und dabei sind sie auch offen für eine gewisse religiöse Erfahrung. Diese kann man aber sicher nur spüren, wenn man überhaupt eine Antenne dafür hat. Und die kommt langsam abhanden.“
Pilgern, so von Groote, habe immer etwas mit Suchen und Hoffen zu tun. Das werde niemals aufhören, egal, wie sich die Begleiterscheinungen verändern. Er hofft, dass sich Menschen weiter auf den Weg machen, Gottvertrauen entwickeln und ihr Leben dadurch besser meistern können. „Auswüchse der Party-Kultur ziehen hoffentlich mal wieder an andere Orte“, so von Groote.
Text und Fotos: Andreas Drouve