Eine Bundesstraße ist per definitionem eine Fernstraße im Eigentum des Bundes. Ganz anders verhält es sich mit der B15. Die Bundesstraße – sie führt seit genau 90 Jahren von Hof in Oberfranken bis an die Tiroler Grenze bei Kiefersfelden – befindet sich quasi im Familienbesitz der Altingers, jedenfalls in deren kollektivem Gedächtnis. Sie ist seit Generationen ihr gefühlter Lebensfaden zwischen Landshut und Wasserburg – es geht hin und her, zwischen den beiden Wittelsbacherstädten an Isar und Inn, die ihrem Wesen nach unterschiedlicher nicht sein könnten: hier das niederbayerische Reduzierte, die Konzentration auf das Wesentliche, schnörkellos und doch hingebungsvoll, wenn es sich lohnt, dort dann die oberbayerische Gelassenheit, die Lebenslust und die Ahnung von der großen weiten Welt gerade in den Städten am Inn, dem Fluss, der ihnen seit Jahrhunderten Menschen aus aller Herren Länder gebracht und genommen hat.
Und diese Codierungen muss man wohl verstehen, um nicht nur dem Kabarettisten, sondern auch der Person Michael Altinger etwas näher zu kommen. 1970 in Landshut geboren, in Wasserburg aufgewachsen und bis heute dort verwurzelt, ist es immer noch die B15, die Michael Altinger hinausführt in die Welt seiner Bühnenauftritte, ins Fernsehstudio und auf kleinen Umwegen über die B12 bisweilen auch nach Altötting. Und zwar schon wesentlich länger als man denkt, spielte doch der Kapellplatz in seiner Adoleszenz eine unerwartete Rolle. „Ein Spezl von mir hatte hier eine Wohnung, direkt am Kapellplatz. Wir haben immer noch losen Kontakt. Der ist heute noch schräg drauf, das war so der Punktyp, der hier am Ort seine Fotografenlehre gemacht hat. Und da habe ich öfter übernachtet“, erinnert sich Altinger lachend. „Die Wohnung, das war der größte Sau-stall, den ich je erlebt hab.“ Man sieht ihm heute noch seine Ungläubigkeit an, spürt, dass Erinnerungen in ihm hochsteigen. „Mein Vater hat bei der traditionellen Fußwallfahrt der Wasserburger öfter das Kreuz bis nach Altötting zum Gnadenbild getragen.“
Kenntnisreich hatte Michael Altinger vor mehr als 20 Jahren auch das Thema Wallfahrt in eines seiner Kabarettprogramme aufgenommen. Es ging um Frauen eines fiktiven katholischen Frauenbunds auf ihrem Weg nach Lourdes, die in der Schweiz ihre Wallfahrt abbrechen. Er trat damals im niederbayerischen Vilsbiburg auf. „Das war das erste und einzige Mal, dass ich meinen Auftritt unterbrechen musste. Mindestens fünf Minuten lang. Da stand eine junge Frau plötzlich aus dem Publikum auf, ging zu mir nach vorne und forderte in einer Intensität, die mich heute noch beschäftigt, dass ich sofort die Bühne verlassen müsse. Dass sei Blasphemie, was ich da mache. Das müsse aufhören. Ich war völlig perplex, denn gerade in Sachen Religiosität und Glauben bin ich sehr empfindsam und lote sehr genau aus, was ich der Zuhörerschaft und auch mir zumuten möchte und kann“.
„Die Sehnsucht nach dem Früher, nach dem Gewohnten aus der Kindheit, das ist so übermächtig geworden. Die Eisbahnen, das Schlittschuhlaufen, das Eisstockschießen – überall bieten die Kommunen die gleichen Lösungen an. Künstliche Erinnerungen auf künstlichen Bahnen.”
In Altötting kennt Altinger alles in- und auswendig: die Schwarze Madonna, den Tod z‘Eding – und was für einen Kabarettisten nicht ausbleiben darf: die Geschichte des ehemaligen Postwirts, die ihn berufsbedingt immer noch oder aus aktuellem Anlass wieder zu faszinieren scheint. Das Fatalistische, das Gespür für das Dramatische, das Gerhard Polt an der Wallfahrtsstadt nach eigenen Aussagen ausgemacht haben will, das scheint für Michael Altinger ebenfalls Teil des Faszinosums Altötting zu sein. „Ich habe hier im Salettl beim Schex den dichtesten Auftrittsort in meiner ganzen Laufbahn erleben dürfen. Das ist viele Jahre her, war sensationell schön, bleibt mir für immer unvergessen. Das war pure Magie. Das ist der ideale Ort für Kabarett und für Kabarettisten“. Altinger scheint etwas ergriffen zu sein, eine Spur ehrfürchtig, bleibt professionell und fern jeglicher Nostalgie, ist aber für einen kleinen Moment auch fassungslos, als er erfährt, dass es diesen legendären Spielort in Altötting nicht mehr gibt. Er schüttelt den Kopf, will sofort die Gründe für die Schließung wissen, überlegt, was man tun könne. Er ist jetzt ganz der Veranstalter, der junge Kabarett- und Comedytalente seit vielen Jahren mit seinem Brettl fördert. Man merkt, dass er ihnen allen dieses Altöttinger Gefühl wünscht, weil das Angenommenwerden, wie er es für einen kurzen Augenblick im Gewölbe an der Kapuzinerstraße erfahren durfte, berufliche Sicherheit gibt, lebenslang. „Das muss reaktiviert werden, unbedingt, sofort“, sagt er.
Altinger sitzt dabei im Forum, dem Altöttinger Kultur- und Kongresszentrum, er wartet auf seinen Auftritt, ahnend, dass der magische Moment heute wohl nicht eintreten wird. Es ist der Tag des dichtesten Schneefalls seit Jahrzehnten. Das Land wird in einer weißen Utopie versinken. In zwei Stunden betritt er die Bühne, Soundcheck, Umziehen, Konzentration. Vor seinen Auftritten isst er nichts, sagt er. Er möchte heute in Altötting etwas Neues ausprobieren, mit einem neuen Musiker. Raiffeisensaal. Der Name irritiert ihn, Altinger fragt nach. Hier ist es eigentlich für jemanden wie ihn, den Menschenfänger und Menschenfreund, zu groß, zu distanziert, zu perfekt, zu grau.
Das Publikum habe sich verändert, sagt er, es sei dankbarer als noch in den Vorjahren für Zerstreuung. Er hat das Gefühl, dass die Besucher seiner Auftritte sich mehr als früher eine Auszeit nehmen wollen, sich eine kleine Zeitspanne gönnen möchten, frei von Konfrontation und Existenzangst. Sie wollen im Leben abgeholt werden. Er höre jetzt oft nach seinen Auftritten den gleichen Satz: „Danke, dass ich heute bei Ihnen frei lachen durfte.“ Er beobachte das und analysiert, dass auch das Lachen in der Gemeinschaft einen höheren Stellenwert gewonnen habe. Überhaupt sagt er, sei es offensichtlich, dass ein Verlangen nach Nostalgie im Raum stehe, nach vertrauter Wohligkeit im Miteinander, nach Momenten kindlichen Stillstands, nach Freiheit von Verantwortung. Es biedermeiert. Er hat die Eislauffläche vor dem Bahnhof gesehen. „Die Sehnsucht nach dem Früher, nach dem Gewohnten aus der Kindheit, das ist so übermächtig geworden. Die Eisbahnen, das Schlittschuhlaufen, das Eisstockschießen – überall bieten die Kommunen die gleichen Lösungen an. Künstliche Erinnerungen auf künstlichen Bahnen“.
Altinger schaut genau hin, sieht große Defizite gerade in der Kommunalpolitik, die ihm mittlerweile zu wenig kreativ sei. Er macht dabei schon lokale und regionale Unterschiede aus, aber vielen, die sich engagieren, ginge einfach der Atem aus, sie seien müde, kraftlos. Und überall werde über das Gleiche gejammert, Lösungen verschließe man sich aber. „Das ist gefährlich, die Menschen haben immer mehr den Eindruck, dass sie sich auf niemanden mehr verlassen könnten. Sie sind ohnmächtig, denn weder Regierung noch Opposition bieten ihnen etwas an, was für sie tragfähig in die Zukunft weist. Letztlich haben sie Angst, eine Angst, die sie nicht artikulieren können. Sie lesen, hören und sehen Vieles, was sie für sich nicht mehr einordnen können. Ihre Angst, ihr Unbehagen streut und macht sie anfällig für Verschwörungstheorien und politische Extreme. Sie haben nichts mehr, was ihnen Sicherheit schenkt.“
Michael Altinger wird ernst, sehr ernst, er beginnt von sich aus über seinen Glauben zu sprechen und man ahnt, dass hier einer sitzt, der sicher ist und den nichts verunsichern kann. „Gott ist mein Freund, ich stehe in ständigem Kontakt mit ihm. Jesus ist mein wichtigstes Vorbild. Die radikale Geschichte der Liebe, das ist das großartigste Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat. Ich ziehe meine ganze Kraft aus Jesus. Und Weihnachten ist für mich das wichtigste Fest überhaupt.“ Altinger wird still, leise. „Ich bin tieftraurig über meine Kirche als Institution. Der Umgang mit den Missbrauchsfällen hat mich an den Rand meiner Möglichkeiten des Mitgehens mit der katholischen Kirche gebracht.“ Und jetzt ist er es, der müde, verzweifelt und kraftlos wirkt, dem der Atem ausgegangen zu sein scheint.
Text und Foto: Maximiliane Heigl-Saalfrank