Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Ihr Glaube stark ist? Als ich einmal Brautleute begleitet und ihnen vor der Trauung die Frage gestellt habe, ob sie einen starken Glauben haben, waren sie irritiert. Die Frage war ihnen so noch nicht untergekommen. Irgendwie dachten sie, Glauben hat man oder man hat ihn nicht. Aber „stark“ oder „tief“? Das seien nicht ihre Kategorien. Und außerdem gebe es doch so viele unterschiedliche Wege und Weisen zu glauben. Wer mag da schon beurteilen, was stark und schwach ist.
Ich muss sagen, mich beschäftigt die Frage sehr, denn einerseits ist es richtig, dass der Glaube ein Geschenk ist. Etwas, das man nicht machen oder sich nicht selbst geben kann. Aber andererseits nennen wir ihn auch eine Tugend. Und eine Tugend kann geübt und gestärkt werden – oder wir vernachlässigen sie und lassen sie verdunsten. Verlässlichkeit zum Beispiel: Wenn ich mich anderen Menschen gegenüber immer wieder um wirkliche Verlässlichkeit bemühe, bei Vereinbarungen, bei Begegnungen, im Zusammenleben – dann geht mir das in Fleisch und Blut über, es wächst als innere Haltung, als Tugend. Wenn ich dagegen dauernd Ausreden habe, unverbindlich werde, mich meinen Launen überlasse, dann wächst keine Tugend von Verlässlichkeit – oder sie verschwindet vielleicht, wenn ich sie vorher hatte.
Und Glaube ist auch eine Tugend! Wie lässt sich diese Spannung verstehen – einerseits Geschenk, andererseits Tugend? Nun, wenn ich das Glück habe, jemanden wirklich als Freund zu haben, dann weiß ich: Ich hab das nicht verdient, es ist ein Geschenk. Dieser Mensch hat mich einfach gern – und ich ihn. Aber jeder weiß: Ich kann etwas dazu beitragen, dass die Beziehung Bestand hat oder tiefer wird. Ich kann sie pflegen. Und eben dieser Aspekt: Beziehung pflegen, lässt Glauben zur Tugend werden. Ich habe das Geschenk bekommen, an Gott, an Christus glauben zu dürfen. Es gibt einen Gott – und ich habe gelernt, mein Leben vertrauensvoll auch so zu deuten, dass ich vieles seinem Segen und seiner Gegenwart zuschreibe: Trost, Freude, Liebe, Vertrauen und mehr. Aber dann fragen wir uns: Bleibe ich auch dabei? Pflege ich die Beziehung durch Gebet, durch Lesen der Schrift, durch die Sakramente, durch den selbstlosen Dienst am anderen Menschen? Wächst dieses Vertrauen, dass Gott mitgeht in meinem Leben; und dass er wirklich auch Herr sein darf? Oder lasse ich den Ablenkungen die Oberhand, oder den Dingen, die in meinem Herzen statt Gott den ersten Platz einnehmen wollen, oder den schlechten Angewohnheiten? Oder überlasse ich mich den Zweifeln oder den Meinungen der anderen Freunde, die meinen Glauben nicht teilen?
Wir sehen: Glaube braucht Beziehungspflege, damit er bleibt und damit er wächst, damit er tiefer und stärker wird. Aber vielleicht fragt jemand: Warum soll er denn überhaupt stärker werden? Weil wir in unserem Leben durch genügend Herausforderungen gehen werden, wo Glaube erstens angefochten, aber zweitens auch dringend gebraucht wird: durch Leid, Trennung, Schmerz, Krankheit, Armut, Verlassenheit, Verzweiflung, Tod von Menschen – und durch die Angst vor dem eigenen Tod. Und hier gibt es sogar eine Wechselwirkung: Immer wieder erlebe ich Menschen, die im Leid den Glauben verlieren. Und immer wieder erlebe ich solche, die im Leid im Glauben stärker werden, sich erst recht an Gott wenden und an ihm festhalten. Das heißt nun für mich zweierlei: Einerseits ist es wichtig, Beziehungspflege zu leben, damit mein Glaube stark wird, besonders wenn es drauf ankommt, vor allem im Leid. Andererseits: Manchmal braucht mein Glaube sogar solche Herausforderungen wie Leid oder Not, damit er gerade darin sich bewähren und stärker werden kann! Wird ein Ausdauersportler besser, wenn er sich im Training niemals „quält“? Und analog: Wird der Glaube tiefer, wenn er sich nie in Herausforderungen bewähren muss?
Wir gehen auf Ostern zu, auf die Erfahrung der Überwindung des Leidens und des Todes durch Jesus, unseren Herrn. Aber Jesus geht zuvor durch das Leid dieser Welt und durch das Leid des Karfreitags. Wir gehen ihm nach: Wir wollen die Beziehung, den Glauben pflegen – auch damit wir im Leid standhalten, und auch damit Glaube in solchen Erfahrungen reift und tiefer werden kann. Und viele von uns gehen derzeit durch leidvolle Erfahrungen. Corona hält an, Corona kostet Menschenleben, Corona strengt viele unglaublich an, macht depressiv, macht einsam, bringt wirtschaftliche Verluste und mehr. Für viele ist Corona ihr Karfreitag. Jetzt bräuchte es einen Glauben, der mir sagt: Ostern kommt bestimmt. Und gerade jetzt können wir uns glaubend an Jesus wenden und ihn bitten: „Lass uns mit dir durch diese Karfreitage unseres Lebens gehen. Und lass uns durch die Beziehung mit dir glauben, dass du schon der österliche Sieger über alles bist. Und dass weder Corona noch sonst irgendeine Not das abschließende Wort über mein Leben haben werden, sondern Du, Herr, das Wort des Lebens.“
Ich wünsche Ihnen allen einen tiefen Glauben an das Geheimnis des Auferstandenen und dass Sie die Erfahrung machen dürfen, dass Er durch jedes dunkle Tal mitgeht, an dessen Ende immer der Ostermorgen auf uns wartet.
Ihnen und Ihren Lieben frohe und gesegnete Ostern.
Dr. Stefan Oster SDB
Bischof