Nein, Du tust das jetzt nicht, sagt die Vernunft. Doch das Eltern-in-Panik-Gen hat längst anders entschieden. Ich greife zum Telefon und rufe an: Magst Du bitte nochmal schauen, ob die Haustür zu ist, ich bin mir nicht sicher, sage ich zu meiner großen Tochter. Antonia lacht nur und sagt: Ja, mach ich, Papa!
Zuvor hatte ich ihr bei einigen Handgriffen geholfen, an denen man nicht vorbeikommt, wenn man in die erste eigene Wohnung einzieht: Bett zusammenschrauben, Möbel aufstellen und so. Kleinigkeiten, bei denen Papa zeigen kann, dass er alles im Griff hat und den Auszug mit Herz und Hand unterstützt. Dann noch ein Espresso aus der neuen Kaffeemaschine am neuen Tisch in der neuen Wohnung im neuen Leben. Noch eine Umarmung und Abschied.
Ich lasse sie zurück. Allein. Das ist großartig. Ein Riesenschritt. Dafür haben meine Frau und ich uns reingehängt, haben gelobt und getadelt, geschimpft und getätschelt, getröstet und geflucht. Dafür haben wir Fieber gekühlt, Märchen erzählt, Chauffeur gespielt, Sandburgen gebaut und Hausaufgaben kontrolliert. Damit die Kinder irgendwann die Flügel spannen und abheben, frei und stark, mit weitem Herz und offenen Sinnen.
Wenn es soweit ist, müssen auch wir Eltern wieder ein Stück reifer, tapferer, mutiger werden. Das war wohl immer so und wird auch immer so bleiben. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Auszug von daheim. Ein Nachbar, der mit Futtermitteln handelte, nahm mich mit Bett und Stuhl und Tisch in seinem Transporter mit. Die paar Möbel hatten locker Platz zwischen Kälberstarter, Salzleckschalen und Kraftfuttersäcken. Meine kleine, resolute Mama verschwand winkend im Rückspiegel. Und wie ich damals ahnte und später erfuhr, erging es ihr wie fast allen Müttern und manchen Vätern: Als das Auto außer Sichtweite war, wischte die zuvor noch fröhlich winkende Hand Tränen aus dem Gesicht. Das dritte Kind war ausgezogen. Mit ihm sein Lachen, seine Jugend, sein Mut, seine Zuversicht, so scheint es im ersten Augenblick.
Bevor ich mich verabschiede, übergebe ich meiner großen Tochter noch ein kleines, flaches Päckchen. Vielleicht lässt sie das kleine Geschenk manchmal innehalten, vielleicht schenkt es ihr Hoffnung, wenn es nötig ist, vielleicht erinnert es sie daran, was das Menschsein ausmacht. Womöglich habe ich mich damit aber am meisten selbst beschenkt. Als ich das kleine gläserne Kruzifix im Domladen sah, huschte ein Lächeln über mein Gesicht und das Panik-Gen war verstummt. Zumindest für diesen Augenblick.
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Wolfgang Krinninger
Chefredakteur