Es ist Freitag um 4.20 Uhr frühmorgens. Ich laufe mit etwas Abstand zwei Pilgern hinterher, von denen einer ein großes Holzkreuz auf den Schultern trägt. Die kennen bestimmt den Weg zur Uni-Kirche St. Nikola, wo die Wallfahrt nach einer Andacht beginnen wird. Uns entgegen kommt eine Gruppe Jugendlicher in Feierlaune: „Schaut euch die an! Mit Kreuz!?“, ruft einer halb verwundert, halb belustigt. Wir Wallfahrer gehen kommentarlos weiter. Es geht ja gleich los – und wie jetzt mal schnell diesen jungen Leuten erklären, dass wir unter dem Motto „Im Kreuz ist Liebe“ zur Muttergottes nach Altötting pilgern wollen …?
Will ich das eigentlich auch? Einen Moment lang denke ich darüber nach, ob’s nicht vielleicht lustiger wäre, gemeinsam mit diesen spöttischen Jungs eine Kneipe zu finden, die noch auf hat …
Dann aber denke ich zurück an den Abend zuvor. Angekommen im Haus St. Maximilian in Passau, habe ich einmal auf die Klingel gedrückt und Isi öffnet im gefühlt selben Moment die Türe. „Dich habe ich erwartet“, sagt die Diözesanlandjugendseelsorgerin, nachdem ich mich kurz vorgestellt habe. Passt. Wir ziehen los, um Wallfahrer zu begrüßen, die schon einen Tag vor dem offiziellen Start aus Grafenau nach Passau gezogen sind.
Ganz schön groß ist diese kleine Kirche unterwegs, die jetzt am Freitagmorgen zu mir nach Hause nach Altötting ziehen will. Rund 700 Wallfahrer sind es am Anfang, 1.200 werden es ab Pocking sein, etwa 3000 am Samstagmittag ab Simbach, ca. 3500 ab Marktl – am Ende zusammen mit dem Pilgerzug aus Osterhofen fast 5000 und in Altötting insgesamt fast 7000. Schon viele, wenn ich darüber nachdenke, dass ich ja in so einem oberbayrischen Örtchen mit knapp 13000 Einwohnern lebe …, und auf jeden Fall viele genug, um darin als Einzelner zu verschwinden – viel zu viele Menschen, mit denen ich zwei Tage lang zusammen gehen, schwitzen, leiden soll. Die meisten der Wallfahrer gehen in kleinen Gruppen, in denen sie sich untereinander kennen. Und da soll ich mitkommen? Schaun mer mal …
Wobei ich an dieser Stelle anmerken muss, dass ich als Bistumsblatt-Redakteur freilich immer Unterstützung hatte – von Seiten der Wallfahrtsleitung, konkret von Birgit und Thomas, die mich auf Anfrage im Auto überallhin mitgenommen haben, wo ich hinwollte. Auch super Schlafplätze habe ich gekriegt. Und sowieso jede Menge Blicke hinter die Kulissen, wie da über 100 ehrenamtliche Helfer, inklusive BRK, Polizei und Feuerwehr zusammenarbeiten.
Impressionen von der Passauer Jugendfußwallfahrt unterwegs
Fotos: Michael Glaß
Aber auf der Strecke, die ich mitmarschiert bin, knapp 60 Kilometer, war ich auf mich allein gestellt. Und das kann dann eben schon auch ein bisschen Angst machen.
Für mich ist es nach längerer Pause die zweite Wallfahrt. Daher weiß ich: es wird weh tun! 90 Kilometer in zwei Tagen sind es insgesamt für die Wallfahrer aus Passau. Auf Wald- und Wiesenwegen, über Teer, Pflaster und Steine. Kaum einer bleibt da von schmerzenden Beinen und Blasen an den Füßen verschont, von Erschöpfung, Kreislaufproblemen und Momenten, an denen man am liebsten aufgeben und heimfahren möchte. Und doch freue ich mich. Auch deshalb, weil man dabei wie beim Feiern in der Nacht Leute treffen kann, denen man sonst wohl nie begegnet wäre …
Claudia aus Grafenau ist die erste, die ich auf dem Weg anspreche – vorsichtshalber mit „Sie“, weil sie mir älter scheint als ich. „Beim Wallfahren und beim Bergwandern san mia per du!“, erklärt sie mir sehr bestimmt. Schon seit 1995 geht sie regelmäßig mit, erzählt sie. Dabei trage sie immer in Gedanken eine bestimmte Person aus ihrem Bekanntenkreis mit, der es gerade nicht so gut geht, und bringe ihr nach der Wallfahrt eines der kleinen Holzkreuze mit, die sich die Teilnehmer um den Hals oder an den Rucksack hängen.
Viele haben jemanden im Sinn, für den sie pilgern und beten. Und manche sagen einfach nur „Danke“ – aus persönlichen Gründen wie etwa für die Geburt eines Kindes oder einfach nur deshalb, „weil es uns ja eigentlich doch recht gut geht“. Schriftliche Anliegen sammelt das Wallfahrtsteam nach jeder Statio unter den Stichwörtern „Wofür stehst du?“, „Wofür gehst du?“ und „Wofür betest du?“ in einer Box und transportiert diese nach Altötting.
Claudia habe ich später übrigens kaum noch gesehen, dafür aber gehört. Nämlich immer dann, wenn ich den Wallfahrtszug fotografiert habe: „Servus, Michi!“, rief sie aus der Menge heraus.
Jedes Mal, wenn ich Gerhard aus Neukirchen vorm Wald wieder treffe, begrüßt er mich mit festem Handschlag und immer öfter mit einer freundschaftlichen Umarmung – am Ende lädt er mich auf eine gemütliche Halbe Weißbier auf der Wiese am Kapellplatz ein. Als ich ihn zum ersten Mal angesprochen habe, weil ich wissen wollte, wie schwer das Holzkreuz ist, das er da so durch die Gegend trägt, hat er mir das rund ein Meter große Kreuz gleich in die Hände gegeben: „Da, probier‘ mal!“ Schon schwer. Gerhard „teilt“ sich das Kreuztragen mit seinen zwei Freunden Marco und Richard – nach der Wallfahrt darf jeder das Kreuz für je vier Monate bei sich zuhause beheimaten. Wieso er das jetzt schon das 16. Mal mitmacht, will ich wissen. „Es ist so“, sagt er, „entweder einmal und nie wieder, oder einmal und immer wieder“. Und wenn man mit einer Art „Wallfahrtsfamilie“ unterwegs ist, mit Leuten, die man immer einmal im Jahr auf dem Weg nach Altötting trifft, dann bleibe man auch dabei.
So ähnlich sagt das auch die sehr viel jüngere Elisabeth „Lilly“ aus Haiming. Sie marschiert für die GCL-MF – der (Jugend-)Gemeinschaft Christlichen Lebens-Mädchen und Frauen – an der Zugspitze mit und trägt deren Fahne. Wie ein „Familientreffen“ sei für sie die jährliche Wallfahrt, bei der sie viele nur dieses eine Mal im Jahr sehe und sich daher umso mehr freue. „Aktuell geht’s mir nicht so gut“, sagt sie. Sie hat gerade knapp 50 Kilometer Fußmarsch hinter sich, immer vorneweg, bei durchschnittlich 6 kmh – ohne spontane Zwischenpause, denn die Zugspitze gibt das Tempo vor und muss dafür sorgen, dass alle nach Zeitplan ankommen. Das ist schon „brutal anstrengend“. Doch man werde hier immer mitgezogen, „wenn man selber zu erschöpft ist zum Reden, dann spricht eben ein anderer für dich“, erzählt sie. Es sei „eine große Ehre“ da vorne dabei sein zu dürfen. Vor dem ersten Mal habe sie sich noch gedacht: „einmal gehen und dann reicht’s“. Mittlerweile ist Lilly das sechste Mal dabei. Auch spirituell sei so eine Wallfahrt eine Bereicherung. Vom Patron ihres Jugendverbands, dem hl. Ignatius, stamme der Tipp „Gott suchen und finden in allen Dingen“ und sie finde hier Gott in vielen Punkten: in der Gemeinschaft; in den Momenten, in denen sie für sich selber gehe und reflektiere, was in ihrem Leben passt und was nicht; und auch in den vielen Gesprächen über Glaube und Kirche; darin, was trotz der Zweifel und so mancher Missstände in der Kirche hilft: „es gibt die guten Momente wie eben diese Wallfahrt und auch mein Jugendverband daheim ist wie eine kleine Familie“.
Impressionen von der Passauer Jugendfußwallfahrt – Einzug in Altötting
Fotos: Roswitha Dorfner
Auch Sepp aus dem Pfarrverband Aufhausen marschiert an der Zugspitze mit – als Fahnenträger für die Katholische Landjugendbewegung, für die er ehrenamtlich aktiv ist. Auch er betont das Gemeinschaftsgefühl: „Ich treffe hier Leute, die ich oft nur einmal im Jahr sehe“, sagt er. Die Gruppendynamik animiere zum Weitergehen, wenn es gerade mal nicht so gut läuft. Er hat auch einen ganz persönlichen Grund zum Mitgehen: kurz nach seiner ersten Wallfahrt im letzten Jahr hat er seine Freundin Annalisa kennen gelernt – und wenn er ein zweites Mal wallfahrtet, dann könne diese Beziehung ja nur gut weitergehen, glaubt er.
Es ist eine lockere Stimmung am Abend vor dem zweiten Tag, nach einer auffrischenden Dusche und einem leckeren Abendessen und mit Ausblick auf ein warmes Bett.
Dann aber geht es früh am Morgen weiter und ich suche wieder Anschluss. Vor allem zwei Menschen fehlen mir. Tine und Rupert (79 Jahre alt) sind mir am Vortag gerade in dem Moment begegnet, als ich überhaupt keine Lust dazu hatte, mit mir alleine zu sein und froh war, jemanden zu treffen. „Ich mache das halt, um einfach mal zwei Tage für mich zu sein“, sagt Tine aus Fürstenzell auf meine Nachfrage, und sie erträgt geduldig, dass ich sehr lange neben ihr gehe und mit ihr spreche oder neben ihr schweige. Rupert ist da ein bisschen anders. Er plaudert ganz gerne, hört auch gut zu, aber wechselt ganz plötzlich die Seite. Habe ich was falsch gemacht? Nach der Wallfahrt erzählt er mir auf Nachfrage, dass er sehr gerne Gesellschaft habe, aber wenn er genug habe oder wenn ihn etwas nerve, dann wechsle er halt den Platz. Zum Beispiel bei diesen zwei ratschenden Pilgerinnen. Da habe er etwas weiter vorne einen „Bayern mit tiefer Stimme“ getroffen, der sei dann angenehmer gewesen. Puh. Ich hoffe jetzt mal, dass ich nicht ganz so lästig war wie diese beiden ratschenden Damen …
Vorne im Zug wechselt sich Vorbeter Georg mit dem Kirchenchor Herzogsreuth ab. Doch mich zieht es immer wieder nach hinten. Im Altöttinger Forst gehe ich neben Rupert, als hinter uns Wallfahrer den Rosenkranz beten. Ungefähr 15 Minuten lang. Danach applaudieren Pilger, die zugehört haben, auch ich und Rupert. „Das Gehen tut nicht so weh, wenn man sich auf das Beten konzentriert“, sagt Rupert und ich stimme zu. Bereits einen Tag zuvor habe ich erlebt, wie ein Pilger den mitmarschierenden Seelsorger Kaplan Michael um ein Gebet bat und sich danach bedankte: „Da haben meine Füße nicht so gebrannt!“
Kurz vor Altötting steigt Rupert lieber in einen Bus ein und geht nicht mehr mit. Neben mir gehen jetzt zwei Teenagerinnen. Ich frage nicht nach, warum sie mitgehen. Gemeinsam lachen wir, als hinter uns Pilger ein Gstanzl singen, in dem sie sich darüber lustig machen, wie verrückt wir Wallfahrer sind, dass wir trotz all der Strapazen immer wieder mitmachen. Gemeinsam stöhnen wir, als wir aus dem Altöttinger Forst heraus sind und sehen wie weit es noch zur Basilika ist. „Da schau“, sagt eine Mitpilgerin schmunzelnd, „die Altöttinger haben sich da Häuser gebaut, damit sie nicht so weit gehen müssen!“
Rupert aus dem hessischen Steinheim am Main, verheiratet mit einer Fürstenzellerin, ist übrigens der Onkel von Tines Ehemann. Sie beide gehen zusammen. Und ich gehe mit beiden sehr gerne mit – und treffe beide immer wieder, obwohl wir da nichts konkret ausgemacht haben. Auch am Ende der Wallfahrt auf dem Kapellplatz: „Es ist beeindruckend, so viele freudige Menschen zu sehen“, sagt Rupert, nachdem wir Wallfahrer eingezogen sind. Es waren wie immer viele Emotionen, die in Altötting einfach rausgerufen und rausgesungen wurden, begleitet vom beliebten „Halleluja“, gespielt von der Musikwerkstatt Autingas.
Im Kreuz ist Liebe - Predigt von Bischof Oster
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Dass Wallfahren ein Bild für das Leben sei, sagt Bischof Stefan, der selber eine Etappe mit der Gruppe aus Osterhofen mitmarschiert ist. „Wir gehen alle auf ein Ziel zu und sind froh, wenn wir ankommen.“ Gemeinsam mit all den Wallfahrern in der St. Anna-Basilika betet er ein Vaterunser und spendet den Segen. Später wird er noch den Abend-Gottesdienst zelebrieren. Danach findet eine Lichterprozession über den Kapellplatz statt.
Rupert lobt vor allem die „Top“-Organisation. Anders als auf dem Jakobsweg, auf dem er vor knapp 20 Jahren schon mal 600 Kilometer gelaufen ist, habe er hier nichts selber planen müssen und sei bestens versorgt gewesen. „Das ist eine Mords-Aufgabe, so eine Menschenmenge an einen Ort zu bringen – und dann auch gesund!“, resümiert Rupert.
Die Wallfahrtsleitung freut sich vor allem mit den Teilnehmern. „Ein Riesen-Applaus für euch alle“, ruft Jugendpfarrer Wolfgang den Pilgern in der Basilika zu. „Diese Wallfahrt ist eine Bereicherung, die einen durch das ganze nächste Jahr trägt“, resümiert Johanna auf Nachfrage. „Und ich bin megaglücklich, dass alles so rund gelaufen ist und dass das Wetter so war, wie ich es mir gewünscht hatte“, sagt die ehemalige BDKJ-Vorsitzende und jetzige Jugendreferentin beim diözesanen Kolpingverband. Tatsächlich war die Wallfahrt heuer an zwei sonnigen Tagen zwischen sonst regnerischen und stürmischen Tagen. „Es war überwältigend“, freut sich Birgit, Referentin im Jugendamt, „vor allem, wenn wir beim Einzug in Altötting die Wallfahrer fürs Mitmachen beklatschen und die sich bei uns bedanken“. Ausdrücklich bedankt sie sich bei allen, die mitgeholfen haben. Auch Diakon Klaus, verantwortlich für die Route von Osterhofen, freut sich über die sehr gelungene Wallfahrt. Thomas, Geschäftsführer im Bischöflichen Jugendamt, sagt: „Wir freuen uns auf das nächste Mal!“
Klar! Einmal und immer wieder …
Michael Glaß
Readkteur