Patricia Kelly erzählt vom wundersamen Aufstieg der „Kelly Family“ und ihrer langen Solokarriere. Sie berichtet von Glanzpunkten und Rückschlägen. Und sie weiß heute, welche Bedeutung zu jeder Zeit ihr Glaube hatte. An Weihnachten aber, sagt sie, werde Glaube und Musik eins ...
Das Foto zeigt eine junge Frau auf einer Bühne. Sie hebt ihre zarte Hand, als würde sie die jubelnde Menschenmenge vor ihr im Stadion dirigieren. In der anderen hält sie die Drumsticks. Fassungslos und berauscht blickt sie in die Kamera. Ihre Augen funkeln. Wie muss es sich anfühlen, auf einer Bühne zu stehen und in ein Meer von Menschen zu schauen, die einem zujubeln?
Patricia Kelly kennt dieses Gefühl nur zu gut. Die heute 53-Jährige gewährt bei einer Soiree in Freiburg einen sehr intimen Einblick in ihr Leben. Als sie das Bild von sich als junge Frau auf der Leinwand zeigt, stockt vielen der Atem. „Es war immer unser Traum, irgendwann in einem vollen Stadion zu singen“, sagt sie heute, fast 30 Jahre später. Als Mitglied der Kelly Family wurde sie berühmt und tourte mit ihrer Familie durch die ganze Welt. Der bekannteste Song der Gruppe, „An Angel“, hielt sich 27 Wochen in den deutschen Charts. Das ebenfalls 1994 veröffentlichte Album „Over the Hump“ wurde allein in Deutschland drei Millionen Mal verkauft. Insgesamt 48 Gold- und Platinschallplatten, einen Bambi und einen Echo erhielt die Familie. Und trotzdem ist Patricia Kelly vor dem kleinen Publikum im Schlossbergsaal im SWR-Landesstudio nervös: „Ich bin aufgeregter, als wenn ich vor 60.000 Menschen singen müsste“, gesteht sie, „denn heute werde ich das erste Mal über meinen Glauben sprechen“.
Dass die Sängerin in der Bistumsstadt auftritt, hängt mit einem ganz besonderen Engagement zusammen: Seit langem ist sie als Patin für das katholische Hilfswerk Missio aktiv. Und das hatte zur Soiree nach Freiburg geladen. Patricia Kelly wuchs in einem kleinen spanischen Dorf ohne Strom und fließendem Wasser auf. „Es waren sehr einfache Verhältnisse“, erzählt sie, „aber meine Kindheit war ein Traum“. Die Vorfahren ihrer Mutter Barbara-Ann gehörten den Amish People an, einer strengen, protestantischen Glaubensgemeinschaft, die jeglichen technischen Fortschritt ablehnt. Vater Dan war Katholik und auch tief im Glauben verwurzelt. Er lernte Barbara-Ann kennen und die beiden bekamen zusammen acht Kinder. „Mein Vater konnte nichts Halbes machen“, lacht Patricia Kelly.
Bei einer Reise nach Rom wurde der VW-Bus der Familie ausgeraubt. Übrig blieben nur die Musik-Instrumente der Familie. Die Kellys machten daraufhin das, was sie schon in Spanien immer gemacht hatten: Sie sangen – und das mit Erfolg. Die Menschen kamen in Scharen, um sie zu hören. Patricia Kelly erinnert sich, dass sie sich als kleines Mädchen gefragt habe, warum denn so viele Menschen bei ihren Auftritten weinen würden. Ihre Mutter habe ihr geantwortet: „Weil sich ihre Herzen öffnen!“ Doch nicht nur deshalb lagen ihnen vor allem junge Menschen zu Füßen. Die Kellys verkörperten das Bild einer alternativen, glücklichen Hippie-Familie – ohne Zwist, voller Liebe und Nähe. Eine Familie, die scheinbar nichts lieber tut, als gemeinsam Songs am Lagerfeuer zu üben. Die Kellys tourten durch ganz Europa. „Das war eine wunderbare Zeit“, sagt Patricia mit einem Lächeln. Schon damals bekamen die Kellys Angebote von Plattenfirmen, doch Vater Dan blieb skeptisch. „Meine Eltern wollten, dass wir glücklich sind.“ Um seine Kinder nicht zu gefährden, lehnte er ab. Als Barbara-Ann mit ihrem jüngsten Sohn Angelo schwanger war, erfuhr sie, dass sie Brustkrebs hat. Ärzte rieten ihr, das Kind abzutreiben, um frühzeitig mit der Chemotherapie anfangen zu können, doch sie lehnte ab. Die Familie reiste zurück nach Spanien, wo Angelo zur Welt kam. Ein Jahr später erlag Barbara-Ann ihrer Krankheit.
Patricia Kelly wirkt noch heute tief ergriffen, wenn sie davon erzählt: „Meine Mutter starb in Würde. Sie starb im Glauben. Es gab keine Verzweiflung. In ihr war ein Feuer und sie hat uns dieses Feuer gegeben“. Ihre letzten Worte seien gewesen: „Keep on singing“ – Singt weiter! „Das haben wir dann gemacht“.
Ganz so geschmeidig ging das aber nicht. Der Vater stürzte nach dem Tod seiner Frau in eine tiefe Depression und ertränkte seine Verzweiflung in Alkohol. Alle finanziellen Mittel wurden aufgebraucht. „Ich musste von einem Tag auf den anderen erwachsen werden“, sagt Patricia Kelly. Die Kinder sangen ohne Vater auf den Straßen, um Geld zu verdienen. „Das war eine harte Zeit, aber irgendwie war ich mir immer sicher, dass schon alles gut werden wird. Ich wusste, Mama ist da. Sie passt auf uns auf.“ In den folgenden zehn Jahren reisten sie. 1989 erwarb Vater Dan Kelly ein 34 Meter langes Hausboot, auf dem die Kellys fortan wohnten. Patricia übernahm die Organisation, handelte Verträge aus und sorgte dafür, dass die Familie genügend Geld verdiente. „Ich habe gar nicht schlecht verhandelt“, sagt sie heute: „Ich kann zwar nicht gut für mich kämpfen, aber für meine Familie schon.“
Begeistert erzählt sie von den Menschen, die sie auf ihren Reisen getroffen haben: „Wir haben die Welt kennengelernt, wie sie ist“, sagt sie. Vor allem auch bei Punks seien sie sehr gut angekommen, lacht sie. „Ich verstehe gar nicht, warum. Wir sahen doch so brav aus“. Mitte der 1990er Jahre feierten die Kellys mit „An Angel“ ihren ganz großen Durchbruch. Bei ihrem ersten Konzert im Stadion war sie krank und konnte nicht mitsingen. Ihre älteste Schwester Kathy habe sie angerufen und nur gemeint: „Patricia, hörst du das?“ Als sie die kreischende Menge gehört habe, habe sie angefangen zu weinen… Von da an veränderte sich das Leben der Familie schlagartig. Millionen verkaufter Platten, Preise, Welttourneen, Massen von Fans. „Doch das beeindruckendste waren die Briefe. Uns schrieben Tausende Menschen“. Die Briefe seien oft traurig gewesen, von Menschen, die durch ihre Musik Kraft und Hoffnung in schweren Zeiten gefunden hätten. Ihre Herzen hätten sich geöffnet. Patricia ist zu der Zeit nicht nur Sängerin, sondern auch Leiterin des gesamten Teams.
„Eine Kirche, die mich berührt, kann mich tragen, kann mir im Gebet und im Glauben helfen.”
Doch das verlangte seinen Preis, der Druck wurde irgendwann zu groß. Zum Schutz der Privatsphäre der Familie wurde eine Mauer um das Hausboot gezogen, um Fans davon abzuhalten, dort einzubrechen. Doch auch das half nicht viel. Die Mauer wurde zur Pilgerstätte. Gleichzeitig polarisierten die Kellys mit ihrem Auftreten und wurden immer häufiger Opfer von Spott und Verachtung. Beschimpfungen wie „Singende Altkleidersammlung“ und „Hippie-Sekte“ kursierten in den Medien. Sogar Morddrohungen bekam die Familie. Auch der Kauf von Schloss Gymnich, dem ehemaligen Gästehaus der Bundesregierung, das von 1998 an zum Hauptwohnsitz wurde, brachte kaum Erleichterung. Auch hier übernachteten ab diesem Zeitpunkt Scharen von Fans auf dem umliegenden Gelände. „Wir waren immer mit Bodyguards unterwegs, hatten keine Freiheit mehr. Der Erfolg wuchs uns über den Kopf“. Die Fassade der perfekten Hippie-Familie begann zu bröckeln.
Ein Burnout und eine Rückenmarksentzündung zwangen Patricia Kelly, erst einmal mit der Musik aufzuhören. Nach dem Tod von Dan Kelly im August 2002 löste sich die Band schrittweise auf. In dieser Zeit fing Patricia Kelly wieder an zu beten. Weil ihr die Bibel zu komplex war, begann sie, Bücher von Thérèse von Lisieux zu lesen und verschlang bald deren gesamtes Werk. „Ich wusste, das ist die Wahrheit“, erzählt sie heute. In Thérèse von Lisieux´ Werken habe sie dieses Feuer wiedergefunden, nicht in dem ganzen Erfolg: „Ich bin kein Showbizz… never!“
Als sie wieder gesund geworden war, beschloss sie, ins Kloster einzutreten. Davon sei ihre Familie überhaupt nicht begeistert gewesen. „Meine Brüder schleppten einen Mann nach dem anderen an, aber die wollte ich alle nicht.“ Als sie dann aber Dennis kennenlernte, war es um sie geschehen. Heute sind sie verheiratet. Trotzdem fühle sie immer noch manchmal eine große Sehnsucht. In der Nähe von Ordensschwestern zu sein, sei für sie immer noch sehr besonders. Sie ist der festen Überzeugung, dass jeder Mensch eine von Gott gegebene Aufgabe hat: „Meine Mission ist es, zu singen, aber die der Schwestern ist viel größer.“ Nachdem die Kelly Family sich getrennt hatte, hörte Patricia nicht auf zu singen und veröffentlichte Soloalben. 2009 dann der nächste Schicksalsschlag: Sie erkrankte wie ihre Mutter an Brustkrebs. Anders als damals wurde die Krankheit aber frühzeitig diagnostiziert. Eine Brust musste amputiert werden, doch sie erholte sich wieder. „Mein Mann hat mich durch diese Zeit getragen. Ich weiß nicht, wo ich ohne ihn heute wäre.“ Sie stand wieder auf, sang weiter, ging sogar wieder mit sechs ihrer Geschwister in neuer Konstellation auf Tour. 2021 stellte das Schicksal sie wieder auf eine harte Probe: Nach einer coronabedingten Lungenentzündung lag sie auf der Intensivstation. Im gleichen Jahr starb ihre Schwester Barby. Ohne ihren Glauben hätte sie diese Zeit nicht überstanden, sagt sie heute. Trotz der Tiefschläge habe sie nie an Gott gezweifelt. „Mit dem Glauben ist es wie mit einer Beziehung. Es gibt Höhen und Tiefen. Der Glaube ist nicht perfekt.“ Man müsse sich aktiv immer wieder dafür entscheiden und sich um den Glauben kümmern. Orte könnten dabei helfen: „Eine Kirche, die mich berührt, kann mich tragen, kann mir im Gebet und im Glauben helfen.“ Seit zehn Jahren macht sich Patricia Kelly für das Hilfswerk missio stark. Dort habe sie das gefunden, was ihr das Showbusiness nie geben konnte: „Ich weiß, dass dort mein Zuhause ist.“
Die funkelnde Welt als Sängerin mit dem Glauben zu vereinbaren, sei oft schwierig, doch mit dem Alter werde es leichter: „Man lernt sich besser kennen und weiß, was man wirklich will.“ Gerade das Weihnachtsfest genieße sie immer, denn dann würden ihre beiden Leidenschaften, der Glaube und die Musik, eins werden. „Es ist ein Ros entsprungen“ gehört zu ihren Lieblingsliedern. Nachdem Patricia Kelly in ganz Europa groß geworden ist, sei Weihnachten „bei uns immer ein bisschen Multikulti“. Die Feiertage verbringt sie mit Freunden und Familie. Dann wird lecker gegessen, viel gelacht, Musik gemacht und die Heilige Messe besucht. In die Kirche begleiten sie ihre beiden Söhne, 20 und 22 Jahre alt, bis jetzt nur ihr zuliebe. Beide seien sich noch nicht im Klaren darüber, wie sie zum christlichen Glauben stehen. „Vor allem der Älteste kämpft mit dieser Entscheidung.“ Wäre es denn ein Problem, wenn er sich für eine andere Religion entscheidet? „Ich würde mir natürlich wünschen, dass es irgendwann mein Glaube wird, aber Hauptsache, er findet sein Glück.“ Heute tritt Patricia Kelly sowohl als Solokünstlerin, als auch mit fünf ihrer Geschwister auf. Das sei alles andere als harmonisch. „Wir streiten oft“, sagt sie. Trotzdem sei sie dankbar, wenn sie mit ihnen auf der Bühne stehe. Patricia Kellys Geschichte ist schillernd. An manchen Stellen klingt sie fast etwas aufpoliert. Und wahrscheinlich gehen Aussagen wie „Nur der liebe Gott macht uns reich“ auch leichter über die Lippen, wenn finanzielle Sorgen gerade kein Thema sind. Doch davon abgesehen: Wer kurz innehält und den Blick an diesem Abend durch das SWR Studio Freiburg schweifen lässt, während Patricia Kelly „An Angel“ singt, spürt eine außergewöhnliche Intensität: Die Herzen öffnen sich. Menschen jeden Alters singen mit, manche summen leise, andere können gar nicht an sich halten. Sogar eine libanesische Ordensschwester singt mit, obwohl sie noch nie von dem Song gehört hat. Zwei 13-jährige Mädchen weinen. Sie seien schon so lange Fans der Kelly Family. „Mama hat mir die gezeigt. Fürs nächste Konzert von Patricia habe ich Karten für die erste Reihe“, erzählt eine stolz. Wenn Patricia Kelly singt, bewegt sie etwas in Menschen. „Manchmal muss man einfach vertrauen, dass alles gut wird. Immer wieder aufstehen, immer weitermachen.“ Sie trägt keine Hippieklamotten mehr und ihre wilde, blondgelockte Mähne von damals hat sie gegen schön frisierte Wellen eingetauscht. Doch ihre Augen funkeln noch immer. Sei es der liebe Gott, eine tiefe Leidenschaft oder alles auf einmal.
Text: Antonia Krinninger