Was die 32-jährige Sandra Norak erzählt, ist verstörend. Als ich erstmals durch einen Zeitungsartikel auf ihre Geschichte stieß, war ich schockiert. In krassen Worten umschrieb sie darin den „Seelenmord“, der an ihr begangen worden war. Bis zu 20 Freier am Tag hatte sie zu „bedienen“. „Zugeritten“ – so die Ausdrucksweise von Zuhältern – habe man sie, um sie gefügig zu machen. Sandra musste am eigenen Leib erleben, dass im Rotlicht andere Gesetze herrschen. Beinahe wäre sie in diesem System, das die Würde von Menschen dem Profit von Zuhältern und Bordellbetreibern opfert, zugrunde gegangen.
Von osteuropäischen Frauen, die die blanke Not in die Abhängigkeit von „Sexhändlern“ treibt, hatte ich mehrfach gehört. Aber wie, so fragte ich mich, gerät eine bayrische Abiturientin – Sandra war 17, als sie erstmals ein Bordell betrat – in die Fänge eines Menschenhändlers? Meine journalistische Neugierde war geweckt. Darüber wollte ich mehr erfahren.
Sandra Norak, das stellte sich bald heraus, lebt mit verdeckter Identität. Nach ihrem Ausstieg aus der Prostitution änderte sie mit dem Wohnort auch ihren Namen. Nicht nur, um sich von ihrem Vorleben abzugrenzen, sondern auch, weil die „Sex-Mafia“ mehrmals versuchte, sie mundtot zu machen. Denn Sandra redet schonungslos über die Zustände in Bordellen. Damit will sie verhindern, dass anderen passiert, was sie erleben musste. Dieser Impuls war es, der ihr die Kraft gab, sich aus dem Rotlicht zu befreien.
Als ich sie das erst Mal traf, war ich erstaunt. Nicht eine verhärtete Aktivistin mit einer verständlichen Abneigung gegen Männer begrüßte mich, sondern eine zarte junge Frau, die das Lachen nicht verlernt hatte. Ihr Vertrauen zu gewinnen, hat dennoch einige Zeit gedauert. Der daraus entstandene Film erzählt nicht nur ihr Leben, das von der Schulbank über das Bordell ins Jurastudium führt. Er ist ein Appell, den menschenverachtenden Praktiken des Rotlichtes endlich den Kampf anzusagen.
„Was hier passiert, hält kein normaler Mensch aus“
Sandra stammt aus Niederbayern. Schon früh verlässt der Vater die Familie, lässt die Tochter mit ihrer psychisch kranken Mutter im Stich. Nach Magersucht und einem Suizidversuch findet die 16-Jährige in einem Internetchat einen verständigen Zuhörer. Sie ahnt nicht, dass sie an einen sogenannten „Loverboy“ geraten ist, der sie zu Unfassbarem zwingen wird. Bald ist er ihr einziger Bezugspunkt. Sie verliebt sich in ihn und zieht schließlich in seine Wohnung. Als er ihr erzählt, dass man ihm wegen Schulden nach dem Leben trachtet, will sie ihm helfen. Die einzige Chance, so gibt er ihr zu verstehen, sei die „Sex-Arbeit“. Sandra ist geschockt, willigt schließlich aber doch ein. „Ich dachte, es wäre die höchste Form, einem anderen zu zeigen, dass man ihn wirklich liebt“, meint sie resümierend. Was dann beginnt, ist ein Leidensweg: In sogenannten Flatrate-Bordellen fühlt sie sich bald wie ein „Sexroboter“. Sandra erlebt die Brutalität der Kunden, die meinen, ein Geldschein würde sie zu allem berechtigen. Sie erfährt das Rotlicht als Parallelwelt, in der Menschenhandel und illegale Praktiken an der Tagesordnung sind. „Frauen, die hier freiwillig arbeiten, weil sie Spaß am Sex haben, habe ich nicht getroffen“, erzählt sie.
Nach sechs Jahren gelingt ihr der Ausstieg. Sie jobbt als Pferdepflegerin, holt ihr Abitur nach und beginnt in Passau, Jura zu studieren. Ihr Ziel: sie will all jene vor Gericht bringen, die das Leben von Frauen in eine Hölle verwandeln.
Vor einigen Wochen durfte ich Sandra in ein Laserstudio begleiten. Wie ein Brandzeichen hatte ihr der Zuhälter ein riesiges Tattoo auf den Rücken stechen lassen. „Die Kleidung aus der Prostitution habe ich weggeworfen, nun will ich, dass auch dieses Zeichen der Unfreiheit verschwindet“, erzählt sie mir vor der aufwendigen und schmerzhaften Behandlung. Bis der Drachenkopf des Zuhälters von ihrer Haut verschwindet, wird es noch lange dauern. Bis ihre seelischen Wunden verheilt sind, wohl noch länger. Was sie ebenso schmerzt, ist, dass manche immer noch meinen, das „älteste Gewerbe der Welt“ wäre ein Arbeitsplatz wie jeder andere. Die vielen Frauen, die Sandra während ihrer Zeit im Rotlicht kennenlernen konnte, haben sie gelehrt: „Was hier passiert, hält kein normaler Mensch aus.“
Sandra ist alles andere als eine militante Feministin. Ihr Appell, Deutschland nicht länger als „Puff Europas“ und Magnet des Sextourismus zu dulden, formuliert sie eher sanft. Dennoch wird ihr missionarischer Eifer spürbar, wenn sie schonungslos den Freiern einen Spiegel vorhält. Vor Politikern oder Menschenrechtsorganisationen fordert sie, die liberale Gesetzgebung in Deutschland, die Menschenhändlern ideale Bedingungen bietet, zu beenden. Bordelle dürften nicht länger Orte eines Martyriums für vulnerable Frauen sein. Deshalb favorisiert Sandra Norak das sogenannte Nordische Modell, das bereits in einigen europäischen Ländern eingeführt wurde: Es bestraft Zuhälter und Freier. Mit einem eigenen Netzwerk will Sandra betroffenen Prostituierten Wege aus ihrer Misere aufzeigen und ihnen juristischen Beistand leisten, um den Peinigern das Handwerk zu legen.
Sandras Kampf gegen eine geduldete Form moderner Sklaverei erinnert mich an Schwester Lea Ackermann. Bereits vor Jahrzehnten hat die streitbare Ordensfrau angeprangert, dass Frauen im Rotlicht als Ware gehandelt und behandelt werden. Auch in kirchlichen Kreisen hat sie dafür viel Aufmerksamkeit erhalten. Bleibt zu hoffen, dass auch Sandra Norak in Christinnen und Christen Mitstreiter findet, damit endlich aufhört, was dem Geist des Evangeliums zutiefst widerspricht: Die sexuelle Ausbeutung von Frauen.
Text: Max Kronawitter
„Sandras Kampf gegen Menschenhandel“ – Film in der ARD
Die ARD zeigt am 8. März um 23:30 das Portrait von Max Kronawitter „Vom Bordell ins Jurastudium – Sandras Kampf gegen Menschenhandel“ (verfügbar auch in der ARD-Mediathek).