Alexandra von Poschinger war drei Jahre lang auf der Suche in der Dreiländerregion Niederbayern, Mühlviertel und Böhmen. Was sie fand? Spannende Menschen, packende Geschichten, starke Stimmen für Europa. Die fügte sie zusammen in ihrem neuen Buch, das sie in Niedernburg vorgestellt hat.
Europa ächzt. Der Krieg in der Ukraine, zunehmender Nationalismus in vielen Mitgliedsstaaten der EU, Bürokratie und auseinanderdriftende Interessen rütteln an den Grundfesten des Kontinents. Mutlosigkeit senkt sich wie ein grauer Schleier über die große Idee der vereinigten Staaten von Europa, um die uns viele in der Welt beneiden.
30 Jahre ist es her, dass der Vertrag von Maastricht die EU begründete. Für die Journalistin, Buchautorin und Kulturmanagerin Alexandra von Poschinger war dieser Vertrag das „kühnste Meisterwerk der Politikgeschichte – und ein großes Versprechen. Von Gemeinschaft. Solidarität. Gerechtigkeit. Grenzenlosigkeit. Wachstum. Wohlstand. Und Frieden.“ Diesem Versprechen hat sie nachgespürt. Sie wollte die europäische Idee noch besser verstehen und prüfen, wo und wie sie bei den Menschen ankommt.
Was ist Europa? Wo will die EU hin? Was bewegt die Menschen an dieser Idee? Diese und viele weitere Fragen standen in ihrem Skizzenblock, auf dem sie im ersten Corona-Lockdown ihre Ideen für ein neues Buch nach dem großen Erfolg von „Wilder Wald“ zusammentrug. Ein Ziel war „Winkl 10“ im entlegensten Mühlviertel. Dort lebt die Steinbildhauerin Gabriele Berger – für Alexandra von Poschinger eine Frau, die Ordnung ins Chaos bringt. „Wenn du durch die Natur gehst und alles wahrnimmst, fängt dein Geist an, mitzuwandern“, erklärte die Künstlerin der Autorin. Was uns am Ende erwarte, sei eigentlich nichtig. Man müsse nur neugierig bleiben auf alles, was kommt. Vermutlich ist die Neugier eine wesentliche Triebkraft im Schaffen von Alexandra von Poschinger. Und ihre Liebe zum Wald. Der Wald ist für sie eben nicht nur Wirtschaftsgut, Lebensraum, Sauerstoffproduzent, CO2- und Wasserspeicher. Er ist für sie magisches Gebiet und Sehnsuchtsort: „Kaum entferne ich mich vom Wald, habe ich das Gefühl, das Licht zu verlieren. Die kühle Helle der Morgen, das flirrende Blau zu Mittag, das Diffuse der Abende.“ So zieht sie weiter, immer weiter im Grenzgebiet zwischen Niederbayern, Böhmen und dem Mühlviertel. Mit wachen Sinnen tastet sich die Autorin an Grenzen entlang, denn Grenzen, sagt sie, „sind der Handlauf des Lebens“. Und nur wer seine Grenzen kenne, könne wirklich frei sein.
Alexandra von Poschinger trifft auf ihrer Reise Sonja Stumpf, die zehn Jahre in einem orthodoxen Kloster lebte, sich dann aber verliebt und ein neues Leben als Ehefrau und glückliche Mutter von drei Söhnen findet. Sie besucht den Unternehmer Franz Xaver Hirtreiter, der sein Leben lang mit Vollgas unterwegs war, jetzt aber sein Herz an Afrika verschenkt. Sie staunt über die faszinierenden Lebenswege von Lida Rakusanova, deren Stimme zum Symbol der freien Tschechoslowakei wurde, oder von Peter Haimerl, der als Architekt darauf pocht, traditionelle Baukultur in die Zukunft zu führen. Nur um ein paar zu nennen. Zudem kommen prominente internationale Persönlichkeiten zu Wort, die auf gesellschaftlich relevante Fragen zu Europa Antworten wissen: etwa der niederländische Schriftsteller Ilja Leonard Pfeijffer (Grand Hotel Europa), der Astrophysiker und Nobelpreisträger Reinhard Genzel, der „King of Klezmer“ Giora Feidman oder die Zukunftsforscherin Oona Horx-Strathern. So entstand ein Geschichtenbuch aus kleinen und großen Novellen, Lebensläufen, Kenntnissen und Erlebtem. Die Texte sind berührend, einfühlsam und klug. Gemeinsam mit den großartigen Fotografien von Florian Eichinger entstand ein stimmiges Gesamtwerk, in dem man gerne lesend und staunend versinkt.
„Etwas poetisch ausgedrückt ist Europa die Heimat unserer Heimatländer.”
Was aber bleibt am Ende der dreijährigen Spurensuche? Alexandra von Poschinger formuliert es so: „Europa, du bist großartig und beglückend, gleichzeitig wahnsinnig und abgründig – und du steckst in jedem von uns.“ Damit Europa aber wirklich als Heimat begreifbar werde, müsse es noch tiefer in die Lebenswelten der Menschen hinein, in die Geschichten der Menschen. Alexandra von Poschingers Buch ist nicht nur feine Unterhaltung und spannende Wissensvermittlung, es ist ein packendes Plädoyer an jeden von uns, sich auch in herausfordernden Zeiten für die großen Versprechen Europas einzusetzen. Vaclav Havel ziert nicht umsonst die Rückseite des Buches: „Etwas poetisch ausgedrückt ist Europa die Heimat unserer Heimatländer.“
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur