Mit gemischten Gefühlen schaut der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, im Gespräch mit dem Passauer Bistumsblatt auf den Schulbeginn in Bayern: „Der Schulstart mit vollen Klassen bleibt ein Experiment mit ungewissem Ausgang und dem stetigen Risiko, auch wieder in den Wechselbetrieb mit halbierten Klassen zurückkehren zu müssen.“
Herr Meidinger, da Sie ein Bayer sind, bleiben wir mit der ersten Frage gleich im Lande: Mit welchen Gefühlen sehen Sie – mitten in der wieder anziehenden Corona-Pandemie – dem in wenigen Tagen beginnenden Schulstart entgegen?
Meidinger: Dem Schulstart sehe ich wie viele andere mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits wünschen wir uns alle – und damit meine ich die gesamte Schulfamilie, also Eltern, Schüler und Lehrkräfte – wieder mehr Normalität im Schulbetrieb. Wir wollen wieder alle Schüler im Präsenzunterricht haben, weil man gesehen hat, dass Fernunterricht – selbst da, wo er gut funktioniert hat – niemals die persönliche Nähe und den intensiven Austausch im Präsenzunterricht ersetzen kann. Aber nach wie vor sind auch viele Fragen ungeklärt, insbesondere, was den Hygieneschutz angeht, wenn der Mindestabstand in vollen Klassenzimmern nicht mehr eingehalten werden kann.
Regelmäßiges Lüften ist oft schwierig, weil sich die Fenster nur spaltweise öffnen lassen und auch die Isolierung von Lerngruppen ist im dynamischen Schulbetrieb kaum durchgängig umsetzbar. Ich bin kein Fan von Schutzmasken im Unterricht, aber bei fehlendem Abstand im Klassenzimmer wird man daran wohl kaum vorbeikommen, wenn man den Gesundheitsschutz hochhalten will. Ich plädiere zum Schulbeginn für größtmögliche Vorsicht, weil wir ja beispielsweise noch gar nicht wissen, welche Infektionsgeschehen durch Reiserückkehrer in die Schulen getragen werden. Aber bei aller Vorsicht – der Schulstart mit vollen Klassen bleibt ein Experiment mit ungewissem Ausgang und dem stetigen Risiko, auch wieder in den Wechselbetrieb mit halbierten Klassen zurückkehren zu müssen.
Wann käme für Sie der Zeitpunkt, um – diesmal bundesweit gesehen – von einem verlorenen Bildungsjahr zu sprechen?
Meidinger: Die wochenlangen Schulschließungen und die anschließende mehrmonatige Phase des Wechselbetriebs haben bei allen Schülern zu Wissenslücken geführt, – bei denen, die wir durch Fernunterricht nicht erreichen konnten, sogar zu massiven Lernrückständen. Wir haben jetzt alle die Hoffnung, dass wir diese Lücken im anlaufenden Schuljahr wieder schließen können, unter anderem durch Zusatzförderangebote.
Das hängt aber ganz stark davon ab, ob wieder umfassender Präsenzunterricht stattfinden kann. Eine nochmalige Phase langandauernder Schulschließungen oder eines stark reduzierten Präsenzunterrichts könnte tatsächlich dazu führen, dass wir längerfristig die Lernziele im jeweiligen Schuljahr nicht erreichen und dadurch dann tatsächlich für einen großen Teil der Schülerschaft ein komplettes Bildungsjahr verlieren. Aber ich setze ganz stark darauf, dass es die befürchtete zweite große Infektionswelle nicht geben wird und wir das Infektionsgeschehen an Schulen auch ohne Lockdown kontrollierbar halten können.
Manchen Kindern blieb – Pandemie-bedingt – in der ersten Jahreshälfte keine Chance, Versäumtes nachzuholen. Es gab wohl „großzügige Versetzungen“. Kommt im nächsten Jahr das böse Erwachen?
Meidinger: In Bayern haben die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Noten nicht hätten vorrücken dürfen, einen Vorrückungsvermerk auf Probe erhalten. Das war auch richtig so, weil ja die schlechten Noten aus dem ersten Halbjahr im letzten Schuljahr in der zweiten Jahreshälfte kaum mehr verbessert werden konnten. Damit diese Kinder ihre mangelhaften oder ungenügenden Leistungen in einigen Fächern verbessern können, bieten die Schulen im nächsten Schuljahr Zusatzförderkurse an, um das befürchtete böse Erwachen zu vermeiden. Aber eines ist klar: Es ist auch eine Anstrengungsbereitschaft der Schüler gefordert, die auf Probe vorrücken durften. Das heißt, diese freiwilligen Förderangebote sollten auch umfassend genutzt werden. Alles dies ist aber davon abhängig, dass wieder umfassender Präsenzunterricht möglich ist, eine Zusatzförderung auf digitalem Wege wird nie dieselbe Effektivität erreichen können.
Das Kinderzimmer kann das Klassenzimmer nicht ersetzen – womit wir beim „Homeschooling“ wären: Bei manchen Eltern und Schülern liegen die Nerven blank. Was raten Sie?
Meidinger: Selbst wenn der Fernunterricht gut funktioniert, weil Schulen und elterliche Haushalte gut ausgestattet sind und Lehrkräfte funktionierende digitale Plattformen nutzen können, ist er immer dem Präsenzunterricht unterlegen. Ich rate Eltern bei künftig vielleicht wieder notwendigen Fernlernphasen auch zu mehr Gelassenheit. Es geht nicht darum, als Vater oder Mutter die Lehrkraft zu ersetzen und das Kind rund um die Uhr zu beschulen, sondern eher darum, einen geordneten Tagesablauf zu gewährleisten und natürlich auch ein Auge darauf zu haben, was die Kinder denn dann auch vor dem Computer konkret so machen.
Mich hat die eine aktuelle Studie nicht erschreckt, die herausgefunden hat, dass Kinder statt der 7 Stunden, die sie zuvor in der Schule anwesend waren, jetzt im Homeschooling durchschnittlich nur die Hälfte für die Schule gearbeitet haben. Wenn sich ein Kind durchschnittlich pro Tag drei oder vier Stunden intensiv mit schulischen Aufgaben beschäftigt hat, ist dies in Ordnung. Wenn es während dieser Zeit aber nebenbei noch am Handy hing und das ein oder andere Game dazwischen geschoben hat, dann lässt der Lernerfolg natürlich zu wünschen übrig.
Es fehlt, so mussten wir schmerzhaft in Corona-Zeiten lernen, hinten und vorne: An Laptops und Tablets, an Anschlüssen zum schnellen Internet, an digitaler Kompetenz bei vielen Lehrerinnen und Lehrern. Wer muss hier seine Hausaufgaben machen?
Meidinger: Ich hätte mir gewünscht, dass die Politik etwas eher erkannt hätte, dass in der Folge von Corona Schulen intensive Unterstützung erhalten müssen. Es war zwar richtig, dass man große Programme für die Wirtschaft geschnürt hat, dass aber das Bildungssystem da zunächst fast völlig leer ausgegangen ist, ist ein schweres Versäumnis, das man kaum aufholen kann.
Gut ist, dass jetzt mit der 500-Millionen-Zusage des Bundes Schüler mit Leih-Laptops ausgestattet werden können, die zuvor keinen Computer zuhause nutzen konnten. Allerdings sind diese Geräte bis dato noch kaum an den Schulen angekommen. Zu Hoffnung gibt auch die Ankündigung der Bundeskanzlerin nach einem Gespräch mit Schulministern und der SPD-Spitze Anlass, alle Lehrkräfte mit Dienstcomputern auszustatten, allen Schülern einen günstigen monatlichen Internettarif zu ermöglichen und für eine professionelle Wartung von IT-Anlagen an Schulen zu sorgen. Allerdings sind dies alles bislang nur Absichtserklärungen ohne entsprechende Finanzierungskonzepte.
Und in Bezug auf Absichtserklärungen sind wir gebrannte Kinder. Zwei Jahre hat es gedauert, bis nach Ankündigung der Digitalpakt im Mai letzten Jahres unterzeichnet werden konnte. Bis heute sind noch keine zehn Prozent der Digitalpaktmittel an den Schulen angekommen. Da hätte man in den letzten Wochen und Monaten Vollgas geben müssen.
Wird sich durch Corona die Kluft zwischen ohnehin guten Schülern, die im Elternhaus zudem unterstützt werden, und Schwächeren, die daheim keine Hilfe bekommen, noch verstärken?
Meidinger: Die Gefahr besteht auf jeden Fall und zwar umso mehr, je weniger Präsenzunterricht angeboten werden kann. Deshalb ist es ja so wichtig, mit größtmöglichem Hygieneschutz an Schulen und in der Gesamtgesellschaft alles dafür zu tun, dass Schulen nicht wieder geschlossen werden müssen.
Selbst wenn die existierenden Lernplattformen für zu Hause gut funktionieren sollten: Was ist mit den Schülern, die damit nicht zurechtkommen und ohne Betreuung beim Hausaufgabenmachen aufgeschmissen sind?
Meidinger: Benachteiligt im Fernunterricht sind Kinder, die noch zu klein zum selbstständigen Arbeiten sind, etwa in den Anfangsklassen der Grundschule, Jugendliche, die einen speziellen Förderbedarf haben, etwa im Bereich der Sprache, weil zuhause kein Deutsch gesprochen wird oder auch Schüler ohne eigenes Arbeitsgerät. Ohne verstärkten Präsenzunterricht werden wir all diesen Schülern nicht richtig helfen können.
Welche Voraussetzungen braucht es, um eine Rückkehr zum Regelunterricht zu gewährleisten? Oder ist das kein Thema, solange es keinen Impfstoff gibt?
Meidinger: Einen normalen, vollumfänglichen Regelunterricht, so wie wir ihn vor Corona kannten, wird es ohne Impfstoff in absehbarer Zeit nicht geben.
Wie steht es Ihrer Einschätzung nach mit den Hygienekonzepten an Deutschlands Schulen?
Meidinger: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich – wieder einmal – auf die Formulierung von schönen Grundsätzen zurückgezogen, bei denen allerdings völlig offen bleibt, ob sie in der Praxis auch umsetzbar sind. Anstelle der wegfallenden Abstandsregelung wird im neuen Hygienekonzept der KMK auf Lerngruppenisolierung, häufiges Stoßlüften und verstärkte Testung von Lehrkräften gesetzt. All das bleibt aber mehr oder weniger im Status der bloßen Ankündigung stecken. In einer gymnasialen Oberstufe mit ihrem Kurssystem können Sie gar keine Lerngruppen voneinander isolieren, in der Mehrzahl der Klassenzimmer kann man aus Sicherheitsgründen die Fenster nicht oder kaum öffnen und außer in Bayern, das ich da ausdrücklich loben muss, gibt es keine Praxiskonzepte für regelmäßige Testungen von Lehrkräften an den Schulen selbst.
…und wie müsste dieses Konzept aussehen?
Meidinger: Eine Maßnahme allein wird nicht ausreichen, es muss ein Verbund von Maßnahmen sein, der auch praxisnah umgesetzt werden kann. Ich halte es beispielsweise für richtig, dass in NRW eine Maskenpflicht im Unterricht für ältere Schüler eingeführt wurde. Bayern überlegt derzeit, ob man diese Regelung vorübergehend übernehmen soll.
Desinfektionsmittel sind das eine, aber wie soll das mit den Abstandsregeln funktionieren?
Meidinger: Bei vollen Klassenzimmern und umfassendem Präsenzunterricht lässt sich die Abstandswahrung weder innerhalb noch außerhalb des Klassenzimmers umsetzen. Das ist ja das, was uns in einigen Bundesländern wie Hamburg oder Schleswig-Holstein und Sachsen Sorgen macht. Da gibt es an den Schulen weder Maskenpflicht noch Abstandsgebot. Das ist fahrlässig.
Was favorisieren Sie: Komplettöffnung oder Schichtbetrieb?
Meidinger: Ich bin für eine weitgehende Öffnung der Schulen bei gleichzeitig bestmöglichen Hygiene-
schutzmaßnahmen. In den Schichtbetrieb sollte man nur zurückkehren, wenn trotz umfassender Infektionsschutzmaßnahmen an Schulen dort die Kontrolle des Infektionsgeschehens verloren zu gehen droht.
Der gesellschaftliche und politische Druck auf die Schulen ist groß. Das macht die Sache nicht einfacher, oder…?
Meidinger: Die bayerische Staatsregierung hat bisher – trotz einzelner Pannen – die Ausnahmesituation der Pandemie gut gemanagt. Wir sollten aber die bisherigen Erfolge im Kampf gegen Corona nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Wenn manche Ärzteverbandsvertreter heute so tun, als seien Schüler quasi immun gegen Covid 19, dann erschreckt mich das. Ich verstehe den Wunsch nach mehr Normalität im Schulalltag, aber dieser Wunsch darf nicht dazu führen, dass alle Ratschläge und der Sachverstand von Virologen und des Robert-Koch-Instituts auf die Seite gewischt werden.
Übrigens: Vom Normalbetrieb werden wir auch im Herbst weiter ein großes Stück entfernt sein. Beispielsweise wird es auch zukünftig nur eingeschränkten Musik- und Sportunterricht geben und auch auf Schulveranstaltungen und Klassenfahrten werden wir weiter verzichten müssen, was wohl notwendig, aber auch jammerschade ist.