Ein Afrika ohne Hunger ist durchaus möglich, sagt der aus dem äthiopischen Kaiserhaus stammende Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate im Gespräch mit dem Passauer Bistumsblatt. Eine Herausforderung, die vor allem Europa angeht, denn: In 30 Jahren wird sich die Zahl der Menschen in Afrika auf 2,5 Milliarden verdoppeln...
Staatsstreiche und Bürgerkriege sind auf dem afrikanischen Kontinent keine Seltenheit. Jetzt wird aus Mali ein Putsch gemeldet. Warum kommt Afrika nicht zur Ruhe?
Asserate: Afrika kommt nicht zur Ruhe, weil der demokratische Prozess in den meisten Ländern noch nicht vollzogen wurde. Es ist in den letzten 60 Jahren keine Seltenheit auf diesem Kontinent, dass zivile Regierungen durch ambitionierte junge Offiziere des Militärs aus dem Amt gejagt wurden.
Manchmal zu Recht, weil die Militärs korrupte, vom Volk verhasste Regime zum Wohle des Staates weggejagt haben. Meistens ist es aber reine Machtgier gewesen, mit dem Versprechen dem Volk „law and order“ zu gewährleisten. Wichtig ist es aber, dass die neuen Machthaber weder die Anerkennung der Afrikanischen Union noch der Europäischen Union erhalten.
Haben wir Europäer noch immer ein falsches Bild von Afrika?
Asserate: Viele Europäer glauben immer noch, dass Afrika kein Kontinent, sondern ein einziger Staat sei. Dieses Vorurteil müssen wir zerstreuen. Andere sind der Meinung, Afrika sei ein homogener Kontinent und im Grunde genommen überall gleich. Auch das stimmt nicht. Es gibt nicht nur ein Afrika – Afrika bedeutet Vielfalt. So kann man einerseits in vielen Staaten erstaunliche Fortschritte und Errungenschaften feststellen, in der Wirtschaft wie in der Politik und auf der anderen Seite begegnen wir Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit. Es ist die Aufgabe der nächsten Generation, diese gravierenden Versäumnisse und Fehlleistungen zu verändern und die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern.
Ich frage deshalb, weil wohl der eine den anderen braucht. Denn in Ihrem Buch „Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten“ schreiben Sie das. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Asserate: Afrika ist der nächste Kontinent Europas. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Afrika wird für Europa immer wichtiger und zwar aus wirtschaftlicher, aber auch aus politischer Sicht. Es hat nicht nur damit zu tun, dass dieser Kontinent einen gigantischen Ressourcenreichtum hat, sondern auch über 60 Prozent der noch nicht bewirtschafteten Agrarflächen dieser Erde verfügt. Und schließlich hat Afrika eine Bevölkerung, die so rasant wächst und so jung ist, dass sie zu einem ökonomischen und sozialen Faktor auf diesem Planeten geworden ist, den kein Europäer mehr ignorieren kann.
Die Statistiken der Vereinten Nationen sagen uns, dass sich die Bevölkerung Afrikas bis zum Jahr 2050 auf 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln wird. Interessant ist heute schon die Tatsache, dass 85 Prozent der afrikanischen Bevölkerung jünger als 25 Jahre alt ist.
Wird sich Europa bald mit der Frage konfrontiert sehen, was geschieht, wenn nicht Zehntausende, sondern Millionen von Afrikanern sich auf den Weg machen?
Asserate: Wenn sich die Hauptursachen für die außergewöhnlich hohe Migrationswelle – und zwar die exorbitante Geburtenrate, die gegenwärtig 2,5 bis 3,5 Prozent pro Jahr beträgt – nicht geändert haben wird, werden viele perspektivlose afrikanische Jugendliche tatsächlich nach Europa aufbrechen. Wenn aber Afrika eine Zukunft haben soll, muss Europa von seiner bisherigen desaströsen Wirtschafts- und Handels-politik Abschied nehmen. Es muss damit aufhören, seine Agrarindustrie auf Kosten der Entwicklungsländer zu subventionieren. Die Einfuhr von Dumpingprodukten, die den örtlichen Bauern und Kleinproduzenten immer wieder das Wasser abgräbt, muss gestoppt werden.
Afrika ist für Europa durchaus eine riesige Herausforderung. Wenn man die Migration eindämmen will, muss man die Lebensverhältnisse der Menschen vor Ort verbessern. Ein Afrika ohne Hunger ist durchaus möglich. Wir wissen jedoch, um dieses Ziel zu erreichen, werden enorme Investitionen nötig sein, beispielsweise in die Infrastruktur und in die Energiewirtschaft. Über allem aber steht die Schaffung von Arbeitsplätzen für die junge Bevölkerung in Afrika, die wie gesagt 85 Prozent der heute 1,3 Milliarden Menschen umfasst.
In einigen Ländern südlich der Sahara beträgt die Jugendarbeitslosigkeit fast 60 Prozent. Um die Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen, müssen wir dafür Sorge tragen, dass in den nächsten zehn Jahren jährlich 30 Millionen neue Arbeitsplätze für diese jungen Leute in Afrika geschaffen werden. Nur wenn es uns gelingt, die perspektivlose afrikanische Jugend in Brot und Arbeit zu bringen, können wir sie davon überzeugen, in ihren Heimatländern zu bleiben.
… aber die größten „Exporteure“ von Migranten auf dieser Welt sind afrikanische Gewaltherrscher und Diktatoren, die ihrem Volk keine Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben lassen. Wie kann man diese Despoten loswerden?
Asserate: Europa muss die demokratischen Kräfte, die in all diesen Ländern im Entstehen sind, mit allen Mitteln unterstützen und nach 60 Jahren endlich aufhören, die bisherigen afrikanischen Gewaltherrscher zu alimentieren.
Sie sagen: „Jeder Europäer finanziert mit seinen Steuern die Diktatoren in meinem Kontinent.“ Was sollten die Staatschefs der EU dagegen tun?
Asserate: Die europäischen Staatschefs müssen endlich begreifen, dass wirtschaftliche Entwicklung ohne politische Entwicklung nicht zu haben ist – auch nicht in Afrika. Europa muss endlich Schluss machen mit der fatalen Appeasement-Politik gegenüber afrikanischen Potentaten. Sie müssen wenigstens die Einhaltung der Grundrechte einfordern, die afrikanische Staaten selbst verbindlich anerkannt haben. Sie alle haben die Grundrechte-Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet und sich zu dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bekannt. Wer in Afrika nicht bereit ist, diesen Grundsätzen zu folgen, dem sollte die Unterstützung gestrichen werden. Regierungen, die das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit missachten und die Menschenrechte mit Füßen treten, verdienen keine Partnerschaft mit demokratischen europäischen Staaten.
Selbst wenn ein einiges Europa gegenüber afrikanischen Despoten Sanktionen verhängt, würde vielleicht dann China auf dem Rücken der Bevölkerung in Afrika die Geschäfte machen. Heißt das im Umkehrschluss, dass gegen Diktatoren kein Kraut gewachsen ist?
Asserate: Sie haben Recht, so lautet der oft zitierte Einwand unserer europäischen Freunde: Wird Europa dann nicht seinen Einfluss auf dem Nachbarkontinent verlieren? Treibt es Afrika so nicht geradewegs in die Arme Chinas, das seine Unterstützung nicht von politischen Forderungen abhängig macht und das Prinzip der Nichteinmischung hochhält? Ich halte dies für ein vorgeschobenes Argument. Denn längst haben die meisten Afrikaner erkannt, dass China in Afrika seine eigene Agenda verfolgt. Ihnen ist nicht verborgen geblieben, dass Peking vor allem darauf aus ist, die afrikanischen Bodenschätze auszubeuten, die es für die Entwicklung seiner Industrie braucht, und an Nachhaltigkeit überhaupt nicht interessiert ist.
Die Aussage von Franklin Delano Roosevelt bezüglich von Diktaturen auf dieser Welt, mit denen westliche Demokratien verhandeln müssen „Es sind Bastarde, aber es sind unsere Bastarde“, darf im 21. Jahrhundert nicht die Basis europäischer Afrikapolitik sein.
Niemand verlässt gerne sein Herkunftsland, seine Freunde und Verwandten, seine gewohnte Umgebung für eine unsichere Zukunft. Despoten sind das eine Übel, hinzu kommen Nahrungsmittelnot, Wasserknappheit, fehlende Arbeit, ein mangelhaftes Schulwesen und eine fehlende Gesundheitsversorgung. Wie also diesem Teufelskreis entrinnen?
Asserate: Ich bin der Meinung, dass große Projekte für Afrika nichts bringen, wenn wir nicht für eine gute Regierungsführung in all diesen Ländern gesorgt haben. Dies ist eine „Conditio sine qua non“ („unabdingbare Voraussetzung“) für jede Entwicklung auf diesem Kontinent. Leider steht gute Regierungsführung nicht immer an erster Stelle der europäischen Agrarpolitik.
Nicht Milliarden, sondern Billionen an Entwicklungshilfegeldern sind nach Afrika geflossen. Aber die Lebenssituation der Menschen in den meisten Ländern hat sich nicht grundlegend gebessert. Ist das nicht frustrierend?
Asserate: Es ist richtig, dass Billionen an Entwicklungshilfe in den letzten Jahren nach Afrika geflossen sind. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton sagt uns, dass nicht mal ein Drittel davon bei den richtigen Adressaten in Afrika angekommen ist, was ein weiterer Beweis ist für notwendige gute Regierungsführung in Afrika.
Ist nicht auch die rigide Agrarpolitik der Europäischen Union schuld an der Misere in Afrika?
Asserate: Es ist richtig, dass die EU mit milliardenschweren Zuschüssen die exportorientierte europäische Agrarindustrie Jahr für Jahr unterstützt. Dies führt dazu, dass die europäische Agrarindustrie die Entwicklungsländer mit konkurrenzlos billigen Produkten überflutet.
… können Sie ein Beispiel nennen?
„Zum Beispiel haben in Ghana Importe von Tomatenmark aus der EU zum Niedergang der Tomatenproduktion im Lande geführt. Die Invasion der Billigkonserven, hauptsächlich aus Italien, hat dazu geführt, dass Tausende von ghanaischen Bauern ihre Existenzgrundlage verloren haben. Sie werden ihre Tomaten nicht mehr los. Stattdessen türmen sich auf den lokalen Märkten Dutzende Sorten von Tomatenmarkdosen „Made in Italy“ zu mannshohen Pyramiden. Die Handelspolitik der EU hat viele der Kleinbauern in Ghana außer Landes getrieben. Eine große Anzahl von ihnen ist in Europa gestrandet, 46.500 allein in Italien. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass sich viele von ihnen dort als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft verdingen. Für einen Hungerlohn ernten sie dort das „rote Gold“, das später in ihre Heimat exportiert wird. Als kleine Rädchen im Getriebe halten sie das System am Laufen, das dazu führte, dass sie ihre heimische Existenzgrundlage verloren haben und sie in die Migration zwang. So entsteht Migration!”
Von Ihnen stammt der Ausspruch: „In Afrika gibt es 2000 Sprachen, aber keine kennt das Wort Gegner. Es gibt immer nur Freund und Feind. Dazwischen gibt es nichts.“ Ist es auch deshalb so schwer, in Afrika demokratische Reformen durchzusetzen?
Asserate: In der Tat ist es schwierig, das Wort Gegner einem Afrikaner mit all seinen demokratischen Deutungen zu erklären. Wichtig ist, dass die Afrikaner endlich akzeptieren müssen, dass jeder berechtigt ist, eine andere Meinung als man selbst zu haben. Und dass Konflikte jeder Art nur auf friedlichem Weg gelöst werden müssen. Der Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen hat dabei die höchste Priorität.
„Letztlich müssen Afrikaner ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen!“ So ein Satz ist aus der Ferne leicht gesagt. Doch wie könnte das in der Zukunft funktionieren?
Asserate: Vor allem müssen wir Afrikaner zwei Sünden vermeiden: Den religiösen und den ethnischen Fundamentalismus. Der Kolonialismus konnte nur durch die Politik von „divide et impera“ („Teile und Herrsche“) schnell in Afrika erfolgreich werden, da es den europäischen Ländern gelang, die afrikanischen Ethnien aufeinander zu hetzen. Auch im 21. Jahrhundert wird der „Ethnofundamentalismus“ unser Untergang sein.
Stattdessen sollten wir nach dem Motto „Einheit in Verschiedenheit und Verschiedenheit in Einheit“ unsere Länder zu demokratischen Föderationen aufbauen. So wie es auch den Indern gelungen ist. Der ethnische Föderalismus, den man kaum vom Apartheidregime in Südafrika unterscheiden kann, der aber in Äthiopien seit 1991 rigoros praktiziert wird, wird dagegen den Untergang afrikanischer Vielvölkerstaaten bedeuten und den Kontinent in blutige Bürgerkriege stürzen.
Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate, 71 ist ein Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Er kommt aus einer Familie, die ihre Herkunft auf König David und die Königin von Saba zurückführt. Der Prinz wuchs in Addis Abeba auf, kam 1968 nach Deutschland und blieb, nachdem Äthiopien von der Revolution durchgeschüttelt wurde. Heute arbeitet er als äthiopisch-deutscher Unternehmensberater, Buchautor und politische Analyst.