Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, antwortet im Bistumsblatt-Gespräch auf die Frage, ob er Hoffnung hat, dass hierzulande eines Tages Synagogen nicht mehr von der Polizei bewacht werden müssen, mit einem Zitat von David Ben Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“
„Du Christ!“ Es wäre kaum denkbar, dass auf Schulhöfen in Deutschland jemand mit diesen Worten beleidigt würde. Dagegen ist „Du Jude!“ zu einem gängigen Schimpfwort beziehungsweise zu einer Anmache geworden. Wo sehen Sie hier den Grund?
Präsident Schuster: Sehr häufig werden Minderheiten als schwächer oder fremd wahrgenommen und daher diskriminiert. Aus dieser Haltung entstehen dann auch solche Schimpfwörter, die ja völlig losgelöst von der tatsächlichen Herkunft des Menschen, der beschimpft wird, verwendet werden. Und Vorurteile gegenüber Juden sind leider tief in vielen Köpfen verankert.
Antisemitismus ist ein umfassendes Phänomen der Ausgrenzung, das, so sagen es Studien, unabhängig von Alter, Religion, Herkunft, Bildungsabschluss, Geschlecht oder Hautfarbe auftritt. Antisemitismus scheint wie ein Virus, das mutiert. Wo muss Ihrer Meinung nach der Hebel angesetzt werden, um diese Seuche auszurotten?
Präsident Schuster: Der Vergleich mit einem Virus ist derzeit naheliegend, aber wir müssen klar festhalten: Antisemitismus ist eine Einstellung, die viele Menschen bewusst wählen und verbreiten. Wie bei allen Vorurteilen gibt es Möglichkeiten, sie zu überprüfen. Niemand ist so wehrlos, dass man einfach von Antisemitismus angesteckt wird, ohne etwas dagegen tun zu können. Ich halte Bildung und Begegnungen für das wichtigste Gegenmittel.
In Deutschland gibt es seit 1700 Jahren jüdisches Leben. Es sollte eigentlich selbstverständlich dazugehören. Katholische und evangelische Kirche starten im Februar eine Plakatkampagne gegen Antisemitismus. Was versprechen Sie sich davon?
Präsident Schuster: Die Plakatkampagne der Kirchen gehört zu den vielen Aktivitäten, die im Rahmen des Festjahres in ganz Deutschland stattfinden. Die Kampagne richtet sich nicht nur gegen Antisemitismus, sondern zeigt die Verwandtschaft zwischen Judentum und Christentum. Das ist wichtig. Denn es gibt ja auch Vieles, was uns verbindet.
Seit 2014 sind Sie jetzt Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Mahnen und den Finger in die Wunde legen, das ist Teil Ihrer Jobbeschreibung. Was motiviert Sie, immer wieder Ihre Stimme zu erheben?
Präsident Schuster: Zum einen habe ich das Wohl der jüdischen Gemeinschaft im Blick, die ich offiziell vertrete. Zum anderen haben wir Juden feine Sensoren entwickelt für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, für Diskriminierung. Daher geht es mir sehr oft auch um unsere Demokratie als Ganzes oder auch um andere Gruppen, die benachteiligt werden. Eines der wichtigsten Gebote im Judentum lautet „Tikkum Olam“, was man mit „Verbessere die Welt“ übersetzen kann. Ich versuche als Zentralratspräsident in diesem Sinne zu wirken.
Auschwitz: Was berührt Sie am meisten, wenn Sie das ehemalige Konzentrationslager besuchen oder darüber reden?
Präsident Schuster: Bei mir ist stets der Gedanke präsent, dass meine Großeltern mütterlicherseits dort ermordet wurden. Ich kenne keinen anderen Ort, der auf so erschütternde Weise zeigt, wie bestialisch Menschen sein können. Auschwitz mahnt uns, jede Entwicklung zu stoppen, die wieder dazu führen würde, bestimmten Menschen ihre Würde und ihr Recht zu leben abzusprechen.
Wie kann man der jungen Generation die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Holocaust vor Augen führen, besonders in einer Zeit, in der es nur noch wenige Zeitzeugen gibt?
Präsident Schuster: Ich halte Besuche in den KZ-Gedenkstätten für ganz wichtig. Sie müssen allerdings im Unterricht gut vor- und nachbereitet werden. Außerdem gibt es weiterhin sehr beeindruckende Bücher und Filme von oder über Überlebende. Die Begegnung mit einem Zeitzeugen kann zwar durch nichts ersetzt werden, aber ich bin überzeugt: Es ist weiter möglich, sowohl ein fundiertes Wissen über die Schoa zu vermitteln als auch Empathie mit den Opfern herzustellen. Und das gilt für alle jungen Menschen, egal, welcher Herkunft.
Wie empfinden Sie als Jude derzeit die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland?
Präsident Schuster: Die Stimmung ist derzeit sehr von der Corona-Pandemie mit ihren Folgen bestimmt. Das empfinde ich als Jude vermutlich nicht anders als nicht-jüdische Bürger. Was mir große Sorgen bereitet, sind die antisemitischen Verschwörungsmythen, die in dieser Krise verstärkt in Umlauf gebracht werden. Hinzu kommen Vorfälle auf Demos von Corona-Leugnern, die inakzeptabel sind, etwa wenn sich Impfgegner als Verfolgte darstellen und einen gelben Stern anheften, wie ihn Juden in der Nazi-Zeit tragen mussten. Das ist geschmacklos und verhöhnt die Opfer des Holocausts.
Gibt es Orte in Deutschland, bei denen Sie Ihren Glaubensbrüdern abraten würden, die Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung, zu tragen?
Präsident Schuster: In einigen Groß‑, zum Teil aber auch mittelgroßen Städten ist es leider mit einem gewissen Risiko verbunden, als Jude erkennbar zu sein. Gewaltsame Übergriffe ereignen sich unabhängig davon, wie ein Stadtteil geprägt ist. Jüngst wurde ein jüdischer Student in Hamburg direkt vor der Synagoge angegriffen. Wir erinnern uns alle an den sogenannten Gürtel-Schläger vom Prenzlauer Berg in Berlin sowie an den Attentäter von Halle. Das Spektrum der Täter ist breit.
Hetzer und Holocaust-Leugner verstecken sich hinter der Anonymität des Internets. Wird es nicht Zeit, diesem nahezu rechtsfreien Raum einen Riegel vorzuschieben?
Präsident Schuster: Hier ist ja bereits viel geschehen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde ein wichtiger Schritt getan. Zudem hoffe ich auf die neue EU-Richtlinie, den Digital Services Act. Danach könnten die Betreiber sozialer Netzwerke noch stärker angehalten werden, Hassrede zu unterbinden. Viel hängt von den Nutzern selbst ab: Sie müssen Hate Speech konsequent melden und selbst mit Kommentaren gegen die Hetze vorgehen. Die Demokraten dürfen das Internet nicht den Extremisten überlassen.
Im Talmud steht die Lebensweisheit: „Solange der Mensch lebt, hat er Hoffnung.“ Haben Sie die Hoffnung, dass in Deutschland eines Tages Synagogen nicht mehr von der Polizei bewacht werden müssen?
Präsident Schuster: Da antworte ich gerne mit einem Satz von David Ben Gurion, dem ersten Regierungschef Israels: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“
Was gibt Ihnen persönlich Hoffnung?
Präsident Schuster: Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland, die überzeugte Demokraten sind und solidarisch an unserer Seite stehen, sowie der politische Grundkonsens, der im Grundgesetz seinen Ausdruck findet. Und als religiöser Mensch gibt mir persönlich auch mein Glaube Hoffnung.