Es gibt Tage, die sich tief in die Erinnerung einprägen, weil sie so intensiv sind. Für mich ist der 9. November 2016 so ein Tag. Am Morgen der blanke Horror in den Nachrichten: Donald Trump hatte es mit seiner Kampagne aus Lügen und Hass tatsächlich geschafft: Er war in der Nacht als Sieger der US-Präsidentschaftswahlen ausgerufen worden. Für jeden demokratisch denkenden Menschen ein Schreckensszenario. Und dennoch wurde der 9. November 2016 noch zum Glückstag für mich.
Der Grund dafür hieß Reiner Kunze. Der Lyriker, der verfolgt und gedemütigt 1977 die DDR verlassen musste und in Erlau im Donautal eine neue Heimat fand, war Ehrengast bei einer Tagung von Redakteuren der deutschen Bistumszeitungen bei uns in Passau. Es war mucksmäuschenstill im Raum, als er ans Rednerpult trat. Der damals 83-Jährige sprach frei, rezitierte aus der Erinnerung Gedichtzeilen und ganze Absätze von Philosophen und Schriftstellern und ließ uns so teilhaben am Kosmos seines Denkens. Ihm gegenüber saß seine Frau Dr. Elisabeth Kunze. Oft lächelnd, immer in Blickkontakt mit ihrem Mann. Sie ergänzte das Gesagte aus ihrer Erinnerung. Geduldig beantwortete der Lyriker im Anschluss unsere Fragen. Ja, erklärte er dabei, natürlich habe er in seinem Leben auch viele Fehler gemacht. Doch niemals hätte er eine Silbe eines Gedichts geändert, um nicht anzuecken, um leichter durchs Leben zu kommen. Denn dann wäre alle Dichtung umsonst gewesen. Das Ehepaar Kunze bescherte uns Journalisten zwei Sternstunden. Aufrecht, weise, mutig, voller Liebe.
„Der stille Deutsche“, wie der Historiker Michael Wolffsohn den Dichter Kunze einmal bezeichnete, zieht die Menschen in seinen Bann: durch seine Ausstrahlung, seine bedachtsame Wortwahl, seine Zugewandtheit. Ein befreundeter Lehrer erzählte mir kürzlich, dass er Reiner Kunze nie vergessen werde, dass er ihm sehr schnell auf einen Brief geantwortet habe.
Der Schriftsteller war damals längere Zeit in Namibia unterwegs. Mein Freund bat ihn, den Schülerinnen und Schülern seiner Klasse zu schreiben, was sie von Jugendlichen in Afrika lernen könnten. Kunzes Antwort: „Dass die Menschen, egal, wo sie leben, es immer nah zueinander haben sollen!“
Am vergangenen Mittwoch gratulierte u.a. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Reiner Kunze zum 90. Geburtstag. „Sie wussten, was auch Ihre Gegner wussten, nämlich wie brisant Worte sein können, wenn sie inmitten von Propaganda und Lügen die Wahrheit sagen“, würdigte der Bundespräsident den Schriftsteller. Steinmeier zitierte in seinem Text auch einen Literaturwissenschaftler, der Kunze als ‚Poeten des Trostes und des Glücks‘ bezeichnet hatte, ‚der selbst den unheilvollen Momenten des Lebens einen Schimmer der Hoffnung abzugewinnen mag‘. Wie sehr sind wir gerade heute auf die Wortschätze des großen Dichters angewiesen.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur