Dass die traumatisierten dänischen Kicker zwei Stunden nach dem Zusammenbruch ihres Teamkameraden Christian Eriksen weiterspielen mussten, war nicht in Ordnung. Dass bei der UEFA im Zweifel Geld immer vor der Moral kommt und die Verantwortlichen vor großen Sponsoren wie Qatar Airways kuschen, ist ein Skandal. Dass in manchen ausverkauften Stadien riesige Menschenmassen ausgelassen feiern, während bei uns Schüler den ganzen Tag Maske tragen müssen, wirkt befremdlich. Dass es nicht gelingt, rechtsradikale Schläger-Fanclubs aus den Städten und Stadien zu verbannen, geht mir nicht in den Kopf. – Und dennoch: Es tut gut, dass der Ball wieder rollt.
Wie Millionen andere fiebere ich mit der deutschen Mannschaft mit – und mit allen Underdogs, die gegen vermeintlich große Fußball-Nationen antreten. Ich schreie, hoffe, bange, juble. Ich raufe mir die Haare, verbanne gelegentlich den „Schiri“ auf eine entlegene Insel, lasse an manchen Spielern kein gutes Haar und kröne andere zu Halbgöttern.
Endlich wieder Wettkampf, Leidenschaft, Emotionen, Nervenschlacht und Herzschlag-Finale. Wie sehr hat auch das gefehlt im Ruhemodus der vergangenen Monate.
Manchmal geht vor und nach den Spielen der Blick der Kameras auch über die Seitenlinie und über die Stadionränge hinaus. Auf Nebenschauplätze des Sports und Hauptschauplätze des Alltags. Die Fernsehmacher lassen uns teilhaben an anderen Ländern, anderen Sitten, an der Vielgestaltigkeit unseres Kontinents. Vielleicht kann so ein großes Sportevent auch dazu beitragen, dass uns dieses friedliche, offene, vereinte Europa wieder ein wenig mehr zur Herzensangelegenheit wird, dass Europa sich eine „Seele schafft“, wie es Robert Schuman einst gefordert hat. Mehr als alle anderen hat dieser große Staatsmann zur Einigung des Kontinents beigetragen (siehe Seite 3). Johannes Paul II. nannte ihn, den ersten Präsidenten des Europäischen Parlaments, „ewiges Vorbild für alle Verantwortlichen am Aufbau Europas“. Das Europäische Parlament verlieh dem überzeugten Christen, der täglich die Messe besuchte, den Ehrentitel „Vater Europas“.
Wie sehr brauchen wir gerade heute, wo sich ein tiefer Graben durch die europäischen Gesellschaften zieht, Visionäre und Vorbilder wie ihn. Dass Papst Franziskus ihm nun den heroischen Tugendgrad zugesprochen hat, ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Seligsprechung, ist ein wunderbares Zeichen. Der „Heilige im Straßenanzug“ strahlt damit noch ein wenig heller als die Mannschaft, die am 11. Juli das Wembley Stadion als Europameister verlässt.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur