Witze, Anekdoten und kleine Geschichten – sie waren mein erster Zugang zum Judentum. Unser damaliger Pfarrer Hieronymus Haydn baute sie immer mal wieder in seine Predigten ein. Der hintergründige Humor, das Eingehen auf menschliche Schwächen, ungewöhnliche Lösungen für vertrackte Probleme und vor allem die Chuzpe – diese Mischung aus Frechheit, intelligenter Unverschämtheit und charmanter Penetranz ließen mich aufhorchen. Selbst in den jugendlichen Sturm- und Drang-Jahren, wo der Kopf in der Kirche oft nur dazu da war, das Augenpaar auf eine Bank mit einem hübschen Mädchen zu lenken.
Viele Jahre später dann Israel. Touristenguide Amir Orly hat mir einmal erklärt, Gott habe für Israel einen eigenen Schöpfungstag benötigt. Bestimmt hat er recht. Gott schuf an diesem achten Tag auf einem schmalen Landstreifen eine Miniatur dieser Welt, ein Museum für den Planeten Erde. Schroffe Bergrücken, fruchtbare Flusstäler, tropische Hitze in der Wüste des Südens, gemäßigtes Klima im bewaldeten Norden und den heiligsten Ort der Erde, Jerusalem. Orte mit großen Botschaften, Stätten voller Wunder. Wer einmal dort war, muss immer wieder hin.
In Israel habe ich in der großartigen Gedenkstätte Yad Vashem im Innersten verstanden, dass hinter jedem der sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden ein Name steht. In Israel durfte ich im Kibbuz Zeuge werden, wie familiär und fröhlich Juden den Sabbat feiern – und wie verrückt sich für uns manche Regeln zu diesem Fest anhören. In Israel musste ich auch erkennen, dass alle sich irren, die meinen, es gäbe für den großen Konflikt in diesem Land eine einfache Lösung. Und in Israel wurde mir einmal mehr klar: Im Erleben steckt Erkenntnis.
Die Wirklichkeit erkennen – das ist auch ein Ziel der Veranstaltungen im Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Juden haben unsere Gesellschaft und Geschichte mitgeformt und unsere Kultur um so viele Schätze reicher gemacht – als Lehrer, Stadträte, Dichter, Wissenschaftler, Kaufleute oder Politiker. Sie waren und sind Nachbarn, Kollegen und Freunde. Und sie waren und sind Außenseiter, Sündenböcke und Verfolgte. Immer wieder.
Es grenzt an ein Wunder, dass nach der Schoah wieder jüdisches Leben in Deutschland entstand. In jüngerer Zeit zieht es sogar junge Israelis in deutsche Großstädte. Unsere Gesellschaft, wir alle, sind gefordert, dieses zarte Pflänzchen zu hegen und zu pflegen und uns mit aller Macht gegen den immer stärker werdenden Antisemitismus zu stemmen. Ein wichtiger Schritt dabei ist das gegenseitige Kennenlernen von Juden und Nichtjuden. Dazu bietet das Jubiläumsjahr viele Gelegenheiten. Und dazu möchten wir im Bistumsblatt mit dieser Sonderausgabe beitragen. Denn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Schirmherr des Festjahrs, hat recht: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen.“
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur