Das Saisonende naht. Die Tage werden kürzer, die Sonne wird schwächer, die Straße schmieriger. Vielleicht noch drei, vier Ausfahrten, dann werde ich mein Motorrad einmotten. Zuvor werde ich es noch einmal volltanken und gründlich waschen, die Batterie aufladen und mir Gedanken machen, was ich vielleicht in den langen Wintermonaten dran umbaue.
Seit mittlerweile 40 Jahren gehört das zu meinen Ritualen im Jahreskreis. Und doch ist heuer etwas anders. Ich wusste in den vergangenen Jahren immer, dass einer meiner besten Freunde dieses Ritual mit mir teilt. Beide haben wir bereits als 16-jährige Moped-rocker erkannt, dass zur Freiheit unbedingt zwei Räder und ein Motor dazwischen gehören. Wir schraubten tage- und nächtelang an unseren meist alten Maschinen, bibberten, wenn im strömenden Regen wieder einmal eines der Motorräder streikte, erkundeten Deutschland und die Nachbarländer – mit Schlafsack und Zelt auf dem Gepäckträger – und malten sie uns aus, die Fahrt bis ans Ende der Welt und weiter. Abends am Lagerfeuer, wo wir Gesehenes und Gefühltes, Erfahrenes und Erträumtes teilten. Das Motorrad war viel mehr als Fortbewegungsmittel. Es war Lebenselixier.
Und jetzt hört der einfach auf. Mein Freund hatte vor kurzem einen Unfall mit dem Motorrad. Er kollidierte mit einem Auto, stürzte, brach sich Rippen und Mittelhandknochen. Verletzungen, die sehr wehtun, aber die wieder heilen. Wie heißt es in solchen Fällen: Es hätte viel schlimmer kommen können. Und doch fasste er schon nach wenigen Tagen den Entschluss: Das war es jetzt! Denn was meinen Freund bestürzt: Trotz all seiner Erfahrung hat er einen Fehler gemacht, den er sich nicht erklären, den er nicht nachvollziehen kann. Er hat den Unfall selbst verschuldet und ist froh, dass niemand anderes zu Schaden kam. Nie wieder möchte er so verletzt, nach Atem ringend und völlig ratlos auf der Straße sitzen und auf den Rettungsdienst warten müssen. Völlig verständlich. Aber es nimmt mich mit.
Motorradfahrer sind verletzlich. Das macht einen Teil des Reizes aus. Ohne schützende Hülle sind sie mit allen Sinnen mittendrin. Jeder Blick, jede Bewegung wird mühelos in Wirkung umgesetzt. Im schönsten Fall verschmelzen Mensch und Maschine zu einer Einheit, die schon eine kleine Ausfahrt zum intensiven Erlebnis werden lässt. Dagegen ist Autofahren wie Fernsehen.
Und jetzt hört der einfach auf. Es dauert einige Tage, bis ich selber das Garagentor wieder aufsperre, den Helm aufsetze, die Maschine mit einem Knopfdruck zum Leben erwecke und eintauche in die Lichtspiele des Herbstes. Mitten hinein, Kurve für Kurve, ohne Angst. Das Vertrauen ist noch da, auf mich, mein Motorrad und meinen Schutzengel.
Aber dass ich nun allein bin bei diesem Ritual, wenn ich im Spätherbst mein Motorrad in die Garage schiebe und noch einmal den Tank tätschle, daran muss ich mich erst gewöhnen.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur