
Die internationale Wanderausstellung „Namen statt Nummern“ zeigt in Altötting und Eggenfelden eine Auswahl von Lebensbildern des Dachauer Gedächtnisbuch-Projekts. Doch es bleibt noch viel zu tun in der Erinnerungsarbeit.
Den Kopf kahlgeschoren, in Zebra-Kleidung statt Anzug und Krawatte, die bloßen Füße in Holzpantinen, auf der Brust gebrandmarkt mit dem roten Dreieck als politischer Häftling, entpersönlicht. Gabriel Mayer war nicht mehr Gabriel Mayer, ehemaliger Landtagsabgeordneter und Bürgermeister seiner Geburtsstadt Altötting, nein, er war fortan nur mehr 93332, eine beliebig austauschbare Nummer, im System des KZ Dachau. So wie ihm war es bereits anderen Söhnen der Wallfahrtsstadt ergangen. Sie verloren ihre Namen, waren zu bloßen fünf- und sechsstelligen Nummern einer Vernichtungsmaschinerie geworden, einer von Menschen gemachten Hölle, die sie teilweise nicht mehr ausspie – in Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Neuengamme, Mauthausen. In Altötting hatte man sie vergessen, ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Geschichten, ihr Leben. Die Erinnerung an sie ist bis heute kaum präsent.
Zu den KZ-Gefangenen in Dachau zählte auch Altöttings langjähriger Bürgermeister Gabriel Mayer.
Fotos: Stadt Altötting (l) / Arolsen Archives (2)
Sich zu erinnern, kann auf vielerlei Weise geschehen, Menschen ihre Namen dabei zurückzugeben, sie lebendig werden zu lassen als Kinder ihrer Eltern, als Geschwister, Freunde, Geliebte und Liebende, in ihr Gesicht zu blicken und ihre Stimme zu hören aus Briefen, Tagebüchern und kleinen Notizen, das zeigen die individuell gestalteten Gedenkblätter des „Gedächtnisbuches Dachau für die Häftlinge des KZ Dachau“.
Mitgetragen wird das Freiwilligenprojekt seit über 25 Jahren von einem Trägerkreis. An ihm beteiligen sich inhaltlich und finanziell das „Dachauer Forum – Katholische Erwachsenenbildung e.V.“, die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e.V., die Katholische Seelsorge an der Gedenkstätte Dachau, der Kreisjugendring Dachau, die Lagergemeinschaft Dachau e.V. sowie das Max Mannheimer Studienzentrum.
Sabine Gerhardus leitet seit seinen Anfängen im Jahr 1999 das Projekt. Ihr zur Seite steht ein festes Team mit vier Ehrenamtlichen vor Ort sowie zwei jungen Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die derzeit aus Frankreich kommen. Als Leitsatz für die biographische Erinnerungsarbeit kann das Jesajawort gelten: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen“.
Seit einem viertel Jahrhundert rekonstruieren Schüler, Studenten, historisch interessierte wissenschaftliche Laien und Angehörige die Lebensgeschichten ehemals in Dachau inhaftierter Häftlinge, auf vierseitigen DIN A3-Blättern, mit Fotos, Zeichnungen und kleinen Textstellen. Aus den mittlerweile über 300 Häftlingsbiografien ist eine international gezeigte Wanderausstellung entstanden, die mittels großer grün-weißer Banner Lebensläufe der Gefangenen vorstellt und überall in den Ländern und an den Orten Halt macht, aus denen Menschen in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurden.

Am 22. März 1933 passierten dort die ersten Häftlinge ein, der vierundzwanzigjährige Claus Bastian wird als Häftling Nr. 1 gelistet, am 27. April 1945 erhält der junge Pole Mieczslaw Charecki die letzte Häftlingsnummer: 161.896. Rund 200.000 Menschen werden im Konzentrationslager Dachau und seinen Außenlagern inhaftiert, etwa 41.500 von ihnen sterben.
Nun hingen auch am Kapellplatz, im Dekanatshaus Altötting, im Erdgeschoss und im 1. Stock die Fahnen der Erinnerung, auf Initiative der Katholischen Erwachsenenbildung Rottal-INN-Salzach e.V. Das Bildungswerk sieht es, achtzig Jahre nach Kriegsende und angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen als ein Muss an, gerade jetzt das Demokratieverständnis und Geschichtsbewusstsein zu stärken. Dabei Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen den Generationen zu bauen, dafür erschien den Organisatoren das Dachauer Gedächtnisbuchs ideal. Eine berührende Eröffnungsfeier mit Texten und Liedern, unter anderem das vertonte Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ des im KZ-Flossenbürg am 9. April 1945 ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer, stimmte auf das Kennenlernen und zur Begegnung mit Männern ein, deren Leben nicht unterschiedlicher sein hätte können.
Da ist der Grazer Rom Karl Wacker Horvath, ein Stoffhändler, der im Zuge der Aktion 14f13 von Dachau nach Schloss Hartheim bei Linz gebracht und dort vergast wurde, da ist der Landshuter Martin Anson (Ansbacher), den man zusammen mit seinen Verwandten nach der Reichsprogromnacht 1938 inhaftierte, der aber im Januar 1939 im Zuge der „Arisierung“ des elterlichen Textilgeschäfts entlassen wurde und nach Großbritannien emigrieren konnte. Da sind aber auch der Münchner Weihbischof Neuhäusler und Pastor Martin Niemöller, das Gesicht der Bekennenden Kirche, die zu den elf Porträts gehören, die stellvertretend für etwa 2800 christliche Priester, Pfarrer und Ordensleute stehen, die in Dachau eingesperrt waren. 57 von ihnen sprach die katholische Kirche bereits selig oder heilig. Zu ihnen zählen der selige Karl Leisner, dessen Heiligsprechungsprozess 2007 eröffnet wurde, und der aus dem Bistum Meißen stammende selige Alois Andritzki, ein Jugendseelsorger. Über ihren persönlichen Werdegang, ihre Berufung und ihre Haftzeit informieren zwei Banner in der Wanderausstellung.

Anlässlich des zweiten Ökumenischen Kirchentags 2010 war die Ergänzungsausstellung über Geistliche angestoßen worden, die Aufarbeitung der Lebensgeschichten jüdischer Rabbiner findet mittlerweile auch statt. Und so erinnerte Ludwig Schmidinger – er wirkte dreizehn Jahre als katholischer Seelsorger an der Gedenkstätte KZ Dachau – am Eröffnungsabend in seinem Impulsreferat über das Gedächtnisbuch auch an den vor 80 Jahren am 10. März 1945 in Dachau verstorbenen Jesuitenpater Jerzy Musiał, für den am 17. September 2003 der Seligsprechungsprozess eingeleitet wurde. „Musiał ist ein Name, ein Leben von vielen, das vor dem Vergessen bewahrt werden muss. Die Arbeit an einem Gedenkblatt ist ein vielschichtiger Lernprozess, der nicht nur wissenschaftliche Methodik einübt und Einfühlungsvermögen entwickelt, sondern sehr sensibel macht dafür wie gefährdet und zerbrechlich demokratische Werte sein können“, so Pastoralreferent Schmidinger.
Er selbst habe auch an Blättern mitgewirkt und teile die Meinungen der Ehrenamtlichen, die es ihm gleichtaten und tun. „Man taucht tiefer in ein Einzelschicksal ein, Geschichte wird mit einem Mal persönlich erfahrbar, der Kontakt mit den Verwandten berührte mich ebenso wie auch die Freude, die sie einem vermitteln darüber, dass man sich ihres Familienmitglieds in der Gedenkarbeit annähme“. Wohl eine der nachhaltig im Gedächtnis bleibende Aussage, die Schmidinger wiedergab, stammt von einem Schüler, der über sich selbst sagte, dass er toleranter geworden sei gegenüber religiösen Gemeinschaften, intoleranter aber gegen alles, was mit einer rechten Gesinnung zu tun habe. Der Theologe lud die Anwesenden ein, am 22. März Dachau zu besuchen, denn an diesem Tag – am 22. März 1933 wurden die ersten 150 Häftlinge ins Konzentrationslager überstellt –, werden traditionell die neu entstandenen Häftlingsbiografien vorgestellt. Dieses Jahr sind es zwölf neue Lebensläufe.
Wie beeindruckend und nachdenklich machend das Erinnern an Menschen in Wort und Bild sein kann, zeigten die konzentrierte Stille, mit der die Betrachter vor den Lebensbannern standen, aber auch die Wortbeiträge der Gäste, die am 10. März ihren Weg ins Dekanatshaus gefunden hatten. „Nie wieder und wehret den Anfängen“, mahnte ein Altöttinger. „Ich bin 1937 geboren und habe erlebt, wo das alles hinführen und wie das enden kann.“ Der Sohn eines Shoa-Überlebenden sprach dann aus, was wohl viele dachten: „Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, die über die Shoa und die Verfolgung und Vernichtung durch die Nazis aus eigenem Erleben erzählen können. Um so wichtiger ist es, deren Erinnerungen zu bewahren und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.“ Über 200.000 Häftlinge erlebten in Dachau ihre Entmenschlichung, wie viele davon bei ihrer Überstellung angaben, in Altötting geboren zu sein oder dort zu leben, ist in der Wallfahrtsstadt bisher nicht erfasst. Ein Gedenkblatt verdienen sie alle. Jetzt.
Text: Maximiliane Heigl-Saalfrank
Die Ausstellung
Die Ausstellung „Namen statt Nummern“ wandert von Altötting am 25. März nach Eggenfelden weiter, in das ehemalige Franziskanerkloster (Franziskanerplatz 1, 84307 Eggenfelden, Tel. 08721 1250360). Bis zum 6. April findet in Altötting und Eggenfelden ein thematisch abgestimmtes Begleitprogramm statt, weitere Informationen hier.