Am 23. Mai wird das deutsche Grundgesetz 75 Jahre alt und erst vor kurzem war das Gedenken an den Tag der Befreiung am 8. Mai 1945. Zwei wichtige Tage für die Demokratie in Deutschland, für einen „kostbaren Schatz“, den es zu erhalten gilt, wie der Autor im Editorial der aktuellen Ausgabe Nr. 21-2024 schreibt.
Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker verwendete dieses jüdische Sprichwort am 8. Mai 1985 in seiner Rede zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war totenstill im Bundestag, als von Weizsäcker diese Worte sprach. Doch danach setzte ein medialer Tsunami ein. Das Manuskript der Rede verbreitete sich ganz ohne Internet binnen weniger Wochen weltweit Millionen Male. Und nicht nur der damalige israelische Botschafter Jitzhak Ben-Ari, damals Gast auf der Zuschauertribüne, sprach von einer „Sternstunde der Bundesrepublik“.
Was bei mir damals ein für alle mal hängenblieb, war der viel diskutierte Kern der Rede: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von den Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“ Der Wahrheit ins Auge sehen und die Vergangenheit ohne Beschönigung annehmen – das ist für mich eine Art patriotisches Manifest: Wer dieses Land mit all seinen Errungenschaften liebt, kann dahinter nicht zurück. Niemand von uns Nachgeborenen kann etwas dafür, dass die Nazis die Welt im Blut ertränkten, aber jeder von uns ist mitverantwortlich, dass so etwas nie wieder passiert.
Der 8. Mai, Jahrtag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, der Tag der Befreiung, war heuer in Hauzenberg mit einer bunten Demonstration für Demokratie und Vielfalt verbunden. Unter den Initiatoren waren auch einige kirchliche Gruppen. Rund 500 Menschen jeden Alters versammelten sich schließlich am Marienbrunnen im Zentrum der Kleinstadt. Frauen und Männer nahmen sich Zeit. Sie zeigten sich. Wie in vielen anderen Städten in den vergangenen Wochen machten sie deutlich: Ich geh‘ da mit, weil es auch um meine Freiheit und die meiner Kinder geht! Diese Leute wollen nicht länger zuschauen, wie die Feinde der Demokratie das zerstören, was unsere Eltern aus dem Schutt der Vergangenheit aufgebaut haben. Es graust ihnen, wenn sie sehen, dass vor allem auch viele Jugendliche für die Hetze der AfD empfänglich sind. Und die Vorstellung, dass diese zerstörerische Partei im Herbst in drei Bundesländern stärkste Kraft werden könnte, macht immer mehr Menschen klar: Unser „Nie wieder!“ ist jetzt gefordert.
Der nächste Gedenktag ist nah: Am 23. Mai 1949, vor genau 75 Jahren, trat das Grundgesetz in Kraft. Das große Gesetzeswerk markiert ebenfalls eine Sternstunde der Bundesrepublik. Seine Grund- und Menschenrechts-Prinzipien wurden als Vorbild in vielen anderen rechtsstaatlichen Demokratien übernommen, beispielsweise in Spanien, Südkorea und Südafrika. Auch das nährt den Stolz auf dieses Land – und die Verantwortung. Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte es auf den Punkt: Keine Verfassung kann ihre eigenen Voraussetzungen garantieren. Demokratie, Freiheit und Menschenrechte müssen jeden Tag aufs Neue erstritten und verteidigt werden. Ja, Demokratie ist anstrengend, manchmal träge und nervig. Und sie ist zerbrechlich. Ein kostbarer Schatz, den zu hüten jeden Aufwand wert ist.
Wolfgang Krinninger
Chefredakteur